Der männliche Blick

Als sie kommt klingelt sie nicht. Sie weiß, dass Kira schläft. Mein Handy leuchtet, es ist noch auf lautlos vom ins Bett bringen. ‚Jolanda‘ strahlt mein Display auf. Ich drücke sie weg. Sie weiß, ich komme gleich runter. Ich bin quasi fertig. Die Jacke habe ich schon an, ich stehe im Bad vor dem Spiegel. Lippenstift. Die Farbe erhellt mein müdes Gesicht und lenkt mich von den Ringen unter meinen Augen ab. Als ich 15 oder 16 war hatte ich eine Phase, in welcher eines meiner Hauptziele war zu lernen, wie man den perfekten Lidstrich aufs Augenlid bringt und welche Schattierungen von braun meine Augen größer erscheinen lassen würden. Braun, weil blaue Augen dann blauer wirken. Mein anderes Ziel war es, alle Klassiker der Weltliteratur in Rekordgeschwindigkeit zu lesen. Ich flog über die Seiten Anna Kareninas tragischer Lebensgeschichte und merkte mir, dass unglückliche Familien die spannenden sind. Meine Heldinnen waren die Bronte Schwestern, die zwar jung gestorben, aber doch als Frauen Romane veröffentlicht hatten. Unter männlichen Pseudonymen versteht sich. Das mit der Schönheit ist so eine Sache. Kann mein inneres Schönheitsideal dem, vom männlichen Blick geprägten, herrschenden Ideal entkommen? Egal was, es ist nie genuin meines. Also drehe ich mich im Gedankenkarussell, in welchem Schüchternheit, der Wunsch nach Aufmerksamkeit, schlechtes Gewissen ob meiner Oberflächlichkeit, Begehren, eigene emanzipierte Lust am Spiel mit den Optischen mitfahren. Ja, auch die fährt mit. Sie sitzt neben dem schlechten Gewissen und tätschelt ihm beruhigend die Hand. Das Wissen ist immer noch da. Also trage ich den Lippenstift mit schneller ruhiger Hand gekonnt auf. Bene sagte mir, ich sehe mit knalligem Rot, das ins Pink übergeht und den hellblonden Haaren ein wenig aus wie eine Art komische Porzellanpuppe und darauf stehe er zumindest nicht. Ich hatte ihn gefragt. Ohne Nachfrage würde er es nie wagen, eine Meinung über das Aussehen einer seiner weiblichen Freundinnen abzugeben. Es verunsichert mich ein wenig. Mein angemalter Mund versteckt sich nicht schmallippig. Ich wähle trotzdem die Farbe. Heute will ich Himbeer und nicht nude. Im Rausgehen schaue ich kurz in die Küche und sage Eva Tschüß. Sie passt auf Kira auf. Ich stolpere fast die Treppen runter, weil ich noch etwas hektisch mein Hipbag danach kontrolliere, ob ich alles dabei habe. Vor der Tür, auf der nachtdunklen Straße unter der Laterne steht Jolanda und strahlt mich an. Es ist das erste Mal, dass wir ohne die Kinder zusammen abends Bier trinken gehen. Sie zieht ihre Stupsnase krauss und lacht, „Ich freu mich so. Ich hab den ganzen Tag gebangt, dass noch ne Nachricht kommt: Kind krank oder so. Oder, dass ich absagen muss, aber dann wurde es immer später und mir wurde klar, ich werde es zumindest nicht sein, die absagt. Mein Kind ist zwar krank, aber ich darf trotzdem raus. Juhuu.“. Ich erwidere das Lachen „Ja, ich kann es auch fast nicht glauben. Waren wir eigentlich seit die Kinder da sind schon mal überhaupt ohne die unterwegs? Also ich mein abends eh nicht, aber tagsüber? Ich glaub nicht, oder?“. „Ne, irgendwie nicht. Komisch eigentlich, dass wir uns trotzdem immer so gut unterhalten.“. „Ja, stimmt, ich glaub das liegt daran, dass die quasi gleich alt sind, sonst sind die Bedürfnisse immer so unterschiedlich wenn die Altersgruppen sich mischen und dann rennt man nur die ganze Zeit in verschiedene Richtungen. Uhh, ich freu mich auch.“. Wir steuern durch den Nieselregen die Straße entlang, vorbei an Kneipen, Coworking Spaces und Spätis. Passieren die Ecke an der wir vor 14 Jahren zusammen gewohnt haben. Die erste WG die ich in Berlin hatte. Wir trafen uns, sie hatte die Wohnung und zwei Zimmer zu vergeben. Ich war neu in der Stadt, sie auch. Nach 5 Jahren zog ich aus, sie auch, wir gingen unterschiedliche Wege, verabredeten uns nicht mehr und trafen uns gelegentlich zufällig auf der Straße. Wo bei anderen vielleicht gegenseitiges Schuldgefühl und Kränkung gewesen wäre, weil man sich aus den Augen verloren hat, war bei ihr immer echte Freude zu spüren, wenn wir uns über den Weg liefen und ein stilles gemeinsames Einvernehmen: Es passt gerade nicht, wir müssen unseren eigenen Weg gehen, die Prioritäten liegen woanders, aber ich mag dich. Und ich mag sie, immer noch. Wir trafen uns wieder als eine gemeinsame Freundin in der Stadt war und wir zusammen in die Kneipe gingen. Ich trank nicht, sie auch nicht. Ich war schwanger, sie auch, aber es war gerade ganz frisch und sie sagte es noch niemandem. Sie sagte sie mache Detox Wochen, was ich von ihr von früher kannte, also dachte ich nicht weiter darüber nach. Ich war schon über der zwölften Woche, also erzähle ich ihnen von der Schwangerschaft. Danach hielt der Kontakt. Erst sporadisch, dann wieder immer öfter. Wir tauschten uns über die Schwangerschaft aus, die Geburten, die Kinder und über das Leben. Beide froh, die andere wiedergefunden zu haben und beide froh, eine andere Mutter zu treffen, die man mag. Das ist nicht so einfach. Als das Leben zuschlug und Johannes erkrankte war sie da und blieb, unaufdringlich aber konstant. „Ich trinke GinTonic heute“, verkündet sie. „Ich fang mit Bier an und dann auch GinTonic.“, „Deal.“. Mit der Kneipe, die wir aufsuchen haben wir keine gemeinsame Geschichte. Ich war hier einmal mit einem Date vor einigen Wochen, davor Jahre nicht. Die Tische sind hölzern dunkel, das Licht schummrig, im Schaufenster leuchten die Meere eines Globus blau und die Kontinente so grün, als wäre alles von Regenwald bedeckt. Noch ist nicht viel los, wir setzten uns an einen der Tische. Im hinteren Raum, der durch eine Stufe vom Tresenraum abgetrennt ist, spielen drei Leute Kicker. Jolanda schaut kurz zu ihnen hinauf. „Ich liebe Kickern. Aber ich bin so eine Streberkickerin, die Einserschülerin, die sich nicht in der Welt draußen zurecht findet. Ich kann nur richtig gut auf den schnieken Bürokickern mit glattem Boden spielen. In der Kneipe stehe ich dann fast beleidigt da: Warum dreht sich die Stange nicht leicht, warum kann ich keine präzisen Stöße landen.“, lacht sie. Ich kann überhaupt nicht Kickern. Ich hasse Kickern, was vor allem daran liegt, dass ich es nicht kann. Und weil es so ein Männerding ist und ich mich dann schlecht fühle, weil ich es nicht kann und weil ich es hasse, dass ich das Klischee der Frau erfülle, die nicht Kickern kann. Das kommt noch aus der Schulzeit. Eigentlich könnte ich da langsam mal drüber stehen, denke ich und dass sich zumindest meine Beziehung zu Tischtennis über die Jahre entspannt hat. Claire, mit der ich schon in der Schule befreundet war, konnte das immer. Aber sie hatte einen älteren Bruder und der hatte das Equipment, um abseits des Pausenhofes zu üben. Ich hatte keinen Bruder und einen Vater, der mit uns Töchtern Ausgrabungen römischer Stätten besuchte und unseren Blick für besonders schön gearbeitete bunte Kirchenfenster schärfte, aber unsere möglichen Begabungen hinsichtlich männlich assoziierter Hobbies verkümmern ließ. Dafür kann ich gotische von romanischen Fenstern unterscheiden. Jolanda hat eine Firma aufgebaut, eine Firma, die als Kollektiv organisiert ist, in einer Branche des Turbokapitalismus. Sie waren zu Beginn viele Frauen, aber als es eine Zeitlang nicht so lief, wanderten die Frauen ab und Jolanda stand da, fast die einzige Frau mit zig Typen. „Da habe ich Kickern gelernt. Dann war ich so gut, dass ich das Ass war, dass bei den Firmenwettbewerben das entscheidende Siegtor schoss.“. Weil sie ähnlich tickt wie ich, war das einer der Siege, auf den sie besonders stolz ist. Jolanda ist eine kleine Person. Aber sie ist stark. Auf den ersten Blick hat sie, trotzdem sie Mitte 30 ist, etwas Mädchenhaftes. Aber sie ist erwachsen und gestanden. Das Mädchen ist ein Das. Im Saarländischen Dialekt auf die Spitze getrieben. Dort werden auch die erwachsenen Frauen mit Das gerufen. „Ist Das Ursula da?“. Er ist immer er. Der Junge, der Mann. Manche schütteln den Kopf: Übertriebene Sprachanalyse. Aber es macht etwas. Was genau. „Den Unterschied nicht repräsentiert zu sein.“, sagt Jolanda. Sie erzählt, wie sie versucht ihren Kollegen in ihrer männlich dominierten Branche zu erklären, was es heißt. Sie erzählt ihnen, dass es dich formt, wenn du als Heranwachsende die Zeitung aufschlägst und dich nicht repräsentiert siehst. In Macht, in Würden und Ämtern. Dass es der Unterschied der Selbstverständlichkeit ist, mit dem du dir Dinge nimmst, dass du immer auch den Blick der anderen im Kopf hast. „Ich wüsste gern, wie es ist heute aufzuwachsen. Ein bißchen was verändert sich ja schon, neben all dem Schlechten und dem rechten Backlash, geht trotzdem auch grade in der Mainstreamkultur ja auch eine Veränderung vor sich.“, „Allein die Vielfalt der Figuren in Serien. Wir hatten halt Gilmore Girls und es war schon krass, wieviel Redeanteil Frauen plötzlich hatten und so, aber die haben sich ja trotzdem die ganze Zeit in ihrer Heteroblase um Typen gedreht.“. Wir nicken beide und trinken den dritten GinTonic. Mir blüht morgen ein anstrengender Tag. Wenn ich am Wochenende abends trinken gehe und mich gehen lasse, das heißt, nicht kontrolliert nach einem, maximal zwei Bier, kleine Biere wohlgemerkt, aufhöre, dann ist der nächste Tag Durchhalten. Es ist nicht nur der Kater. Es ist vor allem zu wenig Schlaf. Wenn ich um eins nach Hause komme, geht es gerade noch so. Aber auch dann nur, wenn Kira gnädig bis um acht schläft, statt bis um sechs. Die neueste Angewohnheit von seiner Seite ist, dass ich ihn unter der Woche, wenn wir um kurz nach acht aus dem Haus müssen, wecken muss, weil er um halb acht immer noch friedlich schlummert. Am Wochenende dann, wenn er sehr gerne auch mal bis neun schlafen könnte, steht er regelmäßig um halb sieben auf der Matte. Nie schläft er die ganze Nacht in seinem Bett. Zwischen 2 und 4 Uhr will er zu mir. Eine zarte Stimme ruft meinen Namen. Durchs Babyphone höre ich sie. Er sitzt in seinem Bettchen, die Arme nach oben gereckt. Wenn er mich dann morgens weckt, heißt dass, er setzt sich auf und patscht mir gekonnt ins Gesicht, oder zieht mich an den Haaren. Manchmal kuschelt er sich auch wie eine kleine Wühlmaus ganz dicht an mich, bohrt seinen Kopf in meine Halsbeuge und gackert mir ins Ohr. Wir beschließen uns noch einen GinTonic zu teilen. Jolandas türkise Mantelbluse schimmert wie Bouretteseide. Sie betont ihre Augen. Als ich es ihr sage, im Tonfall des Kompliments das es ist, erwidert sie, „Das ist weil ich mich geschminkt habe.“. „Das ist mein Vortragsoutfit.“ fügt sie hinzu, „Irgendwie brauche ich da etwas zwar schickes, aber auch knallig-auffälliges, wie eine empowernde Verkleidung. Wenn nicht meine schüchterne Seite wäre, würde ich immer mit total auffälligen bunten Sachen herumlaufen. Ananas auf dem Kopf. Aber als ich mal mit einer pinken Perücke in die Firma ging, fiel mir irgendwann auf, dass es etwas von Sexparty hatte und das ging dann nicht so gut.“. „Wenn die wüssten, dass das noch gar nichts ist, du eigentlich gern mit ner Ananas auf dem Kopf kommen würdest.“, ich lache. Auch ich liebe die Verkleidung. Wäre es möglich hätte ich einen Tag kurze Haare, einen Tag lange, einen Tag Dandy, einen Tag Diva. Der Kompromiss mit dem stark entwickelten Selbstanteil in mir, der nicht auffallen möchte, führt zu einer weniger extravaganten Mischung. Jolanda kuckt in das Etikett ihrer Jacke, ‚Kupferfäden‘ steht da. Was auch immer das heißt. Ich erzähle ihr, dass ich Johannes Klamotten ausmiste. Es ist anstrengend. „Einen Tag dachte ich ganz beschwingt, ich hätte schon total viel geschafft, aber dann saß ich am nächsten Tag da und um mich herum war nur Chaos und es fühlte sich wieder so an, als wäre noch gar nichts geschafft. Wie kann ein Mensch nur so viele Socken haben. Die Hälfte davon ist durchgescheuert, aber die andere eigentlich noch gut. Ich hab sie trotzdem alle in einen Müllbeutel getan. Er hätte bestimmt gewollt, dass Sachen weiterverwendet werden, aber er hätte auch gewollt, dass ich mir nicht zu viel Arbeit mache. Und gefühlt 100 Hemden. Dabei hat er die nie getragen, oder super selten zumindest. Alle von seiner Mutter. Die hat ihm ständig Hemden geschenkt. Am liebsten würde ich sie ihr in einem riesen Packet zurück schicken. Die Blöde.“. Die Kneipe ist jetzt voll. Überall stehen Menschen und ein unwirsch drein blickender Mann sucht neben uns seine Jacke in dem Stapel, den andere auf dem Stuhl neben uns abgeladen haben. Er denkt die Sachen sind von uns. Jolanda dreht sich hilfsbereit um, eine Jacke liegt hinter uns auf dem Fensterbrett. Sie weiß, dass es seine ist. Sie reicht sie ihm freundlich, muss ihre Zigarette aber erst in die andere Hand nehmen. Der Typ kuckt, als hätte sie ein Loch in seine Jacke gebrannt, anstatt ihm umsichtig seine Suche verkürzt zu haben. „Das ewige für andere Mitdenken. Diese weibliche Sozialisation.“, sie drückt die Zigarette im Aschenbecher aus. Wir nehmen unsere Jacken und stehen auf. Die Kinder warten.

Es war einmal…

IMG_0757Im Hinterhof sitzt ein verletzter Vogel. Kann nicht fliegen. Versucht seine Federn zu ordnen, zerzaust. Irgendein Sturm hat ihn aus dem Nest geweht. Eine Krähe ihn attackiert. Der verletzte Vogel ruft mit dem Lied der Verzweiflung. Wen er ruft bleibt unklar. Er ist kein Kücken, er weiß, dass keine Mutter herbei eilt. Er ruft dennoch. Vielleicht kommt der Fuchs. In ein paar Stunden erst, wenn sich die Dämmerung breit macht. Vielleicht ruft der Vogel den Fuchs. Wer weiß.

Ich sitze am Küchenfenster und schaue in den Hof. Trauer ist tückisch. Eben schlief sie noch. Fast dachtest du sie wäre fort. Dann beißt sie zu, plötzlich, hart und schmerzhaft scharf. Ich fühle mich leer. Meine Welt ist ärmer geworden und es fühlt sich an, als würde all der neue Reichtum, den ich versuchte die letzten Monate anzuhäufen, sich im kalten Wind wie Asche zerstreuen. Die Müdigkeit umso stärker zurück schlägt. Tage voller Erlebnisse. Tanzen, wieder arbeiten, Dates, Geburtstag feiern, Emotalk mit Jan, Sport mit Romy, Essen mit Bene. Erschöpfung. Es gibt diesen Teil, der weiß, es wird wieder anders, es wird wieder leichter, es wird wieder andere Tage geben. Aber dieser Teil heißt Vernunft, aber wird heute nicht vom Gefühl getragen. Gestern nicht und auch nicht Vorgestern. Die Traurigkeit ist so groß. Ich fühle mich alt. Als hätte ich in einem Jahr viele Jahre gelebt. Sie sagen nein, wenn ich frage, ob ich alt und verbraucht aussehe, in den Momenten, in denen ich schwach Rückversicherung brauche. Ich zähle alles auf was war. Eine Liste, die mir versichert, dass es in Ordnung ist mich schwach und klein zu fühlen. Dem inneren strengen Wächter, der Stärke fordert, lese ich sie vor. Schwanger sein, Kind gebären, Säugling haben, Johannes eine Woche krank im Bett, langsam aufsteigende Panik in mir, Das ist keine normale Grippe oder so, Johannes sagt verrückte Dinge, Krankenwagen, er allein im Krankenhaus, ich bei Kira, Anruf aus der Klinik, möglicherweise Enzephalistis, ansteckend, Angst um Kira, Anruf aus der Klinik, Gehirntumor, es allen sagen, Krankenhaus Besuche, OP, Diagnose, Todesurteil Glioblastom, Hospizplatz Anmeldung für später, zuhause Chemo, veränderter Johannes, geistig verwirrt, manchmal klar, Baby und Chemoalltag organisieren, Ödem, Krankenhaus, Kortison, zuhause, Feiertage mit der Ahnung es seien die letzten gemeinsamen, Thermenausflug, Wellness, so schön und dann so schrecklich, Epileptischer Anfall in der Therme, Ich beim Stillen, der Schlag, er liegt, Krankenhaus, zuhause, Hochzeit, Arztgespräch, die Chemo schlägt nicht an, Diskussionen über andere Therapiemöglichkeiten, Johannes verfällt vor meinen Augen, stummer, schwächer, wütend, traurig, deprimmiert, aber ohne Worte, er geht nicht mehr raus, keine Spaziergänge mehr, er wäscht sich nicht mehr, sitzt nur auf dem Sofa, Bauchkrämpfe, Krankenwagen, Klinik, Willkommen in der Palliativversorgung_____________________________________________________hier sind wir jetzt. Es ist Februar.

Wir fahren mit den Fahrrädern. Die Straße ist leer und ich hole auf, fahre neben ihm. Ich drehe meinen Kopf und winke Kira, der hinter Johannes im Fahrradanhänger gluckst. Ich lächle. Die Wiesen im Mai sind so grün. Der Flieder blüht. Der betörende Duft strömt in einer sanften Böhe des Frühlingswindes vorbei. Ich atme ihn tief ein. Wir fahren durch die Alleen Brandenburgs. Die Wipfel der Bäume wogen über uns. Die Blätter noch hellgrün. Wir biegen ein, in den kleinen Weg, der zum See führt. Der Sandboden ist noch fest. Im Sommer muss man hier absteigen, weil der weiche helle Sand, der die trockenen Kiefernwälder bettet, dann so lose ist, dass die Fahrräder stecken bleiben. Bis auf die ältere, bereits braun gebrannte Frau mit dem großzügig geblümten Badeanzug, die in ihrem mitgebrachten Klappstuhl sitzt, ist niemand hier. Der Strand ist weit und hell und der See breitet sich klar und glänzend vor uns aus. Er ist bereits geschäftig dabei alles auszuladen. Die Decke ausbreiten, um einen der Buchenstämme herum alles drapieren. Kira hat er bereits aus dem Wagen geholt. Der stapft hinter ihm her durch den Sand und hat sich einen Stock geschnappt, mit dem er im Sand bohrt. Kira erzählt. Noch versteht man nicht was. Vielleicht erzählt er vom Fahrtwind, vielleicht von der Ameise, die er heute Morgen genau betrachtet und dann versucht hat zu essen. Johannes erklärt ihm mit ernsthafter, warmer Stimme was er tut. Sie lachen, Kira kreischt „Guck, guck.“, rennt hinter den Baum und versteckt sich, späht hervor und kichert. Ich muss nichts tun. Lasse ihn machen und als er zu mir kommt und fragt, ob es ok ist, wenn er direkt ins Wasser springt, küsse ich ihn. „Klar, geh! Ich schau mal, ob Kira schon was essen will.“, „Ich hab die Box mit dem Obst oben in meinem Rucksack. Wirklich ok, wenn ich schnell…“-„Jaaa. Na los, mach schon, frag mich nicht dreimal.“. Ich scheuche ihn mit der Hand fort und lächle dabei. So ist er. Er braucht die Beteuerung, dass es ok ist, wenn er sein Ding macht. Manchmal bin ich leicht genervt davon, aber wir sind so eingespielt und er weiß mittlerweile, dass es mir zwar wichtig ist, dass wir verbunden sind, aber dass ich es immer unterstütze, wenn er sagt was er will. Auch wenn ich vielleicht gerade etwas anderes will. Er ist so schnell ausgezogen. Mit einer Badehose hält er sich nicht auf. Rein ins Wasser. Mir ist es noch zu kalt zum Baden. Aber Johannes ist schon im März zum ersten Mal ins Wasser gesprungen, nur kurz untergetaucht zwar, aber „Anbaden“, wie er es nennt, kann man ja schon mal. Die Verschnaufpause, in der ich mich nicht um Kira kümmern musste, macht, dass ich nun wieder Lust habe, mich mit ihm zu beschäftigen. Ich packe ihn und vergrabe mein Gesicht in seinem Bauch, während er jauchzt. Wir suchen gemeinsam die Apfelschnitze, die Johannes geschnitten in einer Tupperbox eigentlich immer dabei hat. Meine neurotische Angst Kira könnte an einem Apfelschnitz ersticken, lacht Johannes weg, aber ohne, dass ich mich ausgelacht fühle. Er strahlt so viel Vertrauen aus in dieses Kind, dass ich mich entspanne und alle Sorgen bezüglich bedrohlicher, schneewittchenhafter Szenen loslassen kann. Kira hat in jeder Hand ein Stück Apfel und schmatzt genüsslich. Johannes sagt, das hat er von mir, ich würde auch manchmal solche Geräusche machen. Dann lächle ich verschmitzt und beteuere, dass ich durchaus auch weiß mich zu benehmen. Kira an der Hand gehe ich den etwas abschüssigen breiten Strand hinunter zum Wasser. Wo ist Johannes? Eine kurze eiserne Furcht fasst mich, nicht das er einen Krampf im Bein hatte, bei diesen Wassertemperaturen schon möglich. Aber ich sehe ihn links hinter dem Schilfrand. Er winkt. Er strahlt und schwimmt mit schnellen Zügen auf uns zu. Das Wasser perlt von seinem sportlichen Körper, als er aus dem Wasser steigt und er spritzt uns mit kleinen Tropfen nass, den Arm um mich legend. Kalt und doch voller Leben.

Das wird nie passieren. Der kommende Mai liegt hinter den hohen steilen Gipfeln des Märzes und des Aprils verborgen. In deren scharfkantigen Spalten lauern Siechtum und Tot, aber es führt kein Weg an diesem Gebirge vorbei. Noch liegen die höchsten Pässe vor mir. Wenn sich die grünen Weiten des Mais vor mir ausbreiten werden, wird es nicht dieser Mai sein. Dieser Mai ist in meinem Kopf. Die Fantasie über die Zukunft, die ich hatte, damals vor hundert Jahren, als Kira gerade einen Monat alt war und Johannes lachend sagte: „Wart’s ab, wenn sie dann anderthalb oder zwei sind, dann werden sie erst richtig süß. Dann können wir im Frühling Fahrradtouren mit dem machen.“. Es sind diese Märchen im Kopf, die das Narrativ des täglichen Lebens strukturieren. Vage und sonnige Vorstellungen über das was kommt. An sie zu denken, erlaube ich mir erst jetzt. Ganz langsam. Sie sind wie Nadeln ins Herz, spitz und lang. Die Realität gleicht nie diesen Fantasien, aber jetzt könnte sie nicht weiter von ihnen entfernt sein.

Der Vogel hat aufgehört zu rufen. Ich sehe ihn nicht mehr. Die Krähen kreisen über der Platane und unter grauem Wolkenhimmel. Sie kreischen.

Oh Tannenbaum

IMG_5916Zwei Paar Socken, Fleece unter die Winterjacke. Tagsüber in der Sonne war es schon kalt. Jetzt ist es dunkel. Klare Nacht. Eigentlich erst halb sieben. Dennoch. Draußen. Weiter weg als meine Stammkneipe um die Ecke, weiter weg als das Kino ein paar Straßen entfernt. So weit war ich seit anderthalb Jahren nicht mehr abends von zuhause weg. Ich lächle und atme die kalte Luft tief ein. „Müssen wir hier rein?“, der dunkle Boden, feuchte, festgetretene Erde. „Ja, hier rein.“. „Stimmt, da hinten ist schon das Feuer, der Schein, siehst du?!“, „Ja, nicht Australien?“. Der Witz ist so schlecht, aber Bene lacht trotzdem. Solange es nur hieß Überflutungen machte es mir schon Angst, aber Feuer. Möglicherweise gibt es einen Grund warum die Höllen der Christen brennen. Eine Urangst, archetypisch, zutiefst menschlich seit der Beherrschung des Feuers. Und nun. Seit Australien brennt stelle ich mir vor, dass wir alle in 20 Jahren nur noch mit Atemmaske raus können. Dystopisch. Realistisch? Dafür träume ich von Wasser. Das Eis ist geschmolzen. Einmal vor ein paar Tagen regnete es im Traum in meine Wohnung, die Fenster undicht. Gestern tauchte ich ein in ein Meer, türkis und hell. Ich sprang kopfüber leichtfüßig hinein und das herrlich frische Wasser umgab mich ganz. Schwerelos. Alles war klar und durchscheinend. Wir gehen den dunklen Pfad entlang, dem warmen Schein entgegen. Es lodert und regnet kleine Funken, als ein Kind einen der Weihnachtbäume, die gestapelt am Rand liegen hineinwirft. Kira im Kinderwagen. Strumpfhose, Hose, Schneeanzug. Schichten über Schichten und dann im Lammfellwagensack. Noch ist er wach. Wir treffen die anderen. Eine Gruppe. Begrüßen, drücken, alle Gesichter errötet von den warmen Flammen hinter uns. Wir trinken heißen Apfelsaft mit Rum und Glühwein, der angenehm unsüß schmeckt, im Wechsel aus Pappbechern, die wir uns, wenn sie leer sind erneut befüllen lassen. Die Person am Tresen sagt sie habe keine Ahnung was ein Schuß sei und meint ich solle mir den Rum selbst einfüllen. Ich erwidere lachend, ich hätte auch keine Ahnung und lächle dabei sie und den Typen in der Gruppe daneben an, der mir irgendwie bekannt vorkommt. So viele Menschen. Ich finde alle schön und alles toll, die Wärme, das Lodern, die erleuchteten Gesichter, den Funkenregen, den dunklen Himmel, die kalte Luft, das Lachen der Leute. Könnte ich hier bleiben, feiern, lachen, tanzen später vielleicht, mit dem Unbekannten reden, der nah am Feuer sitzt und dessen Blick meinen streift. Ich fühle mich lebendig, frei, freudig und strahlend. Die anderen diskutieren über transformative Justice als ich zurück komme und zeigen Kira das Feuer. Er liebt Lichter, Kerzen, sagt „Ker“ oder „Kerz“ und zeigt, wenn man diese anzünden soll. Aber das Feuer macht ihm Angst. Nicht wenn es ruhig vor sich hin brennt, aber wenn ein neuer Baum hinein geworfen wird und es hochschießt, prasselnd und fauchend die Nadeln und das trockene Holz verschlingt, so hell die lodernde Flamme. Kira weint, er kuckt direkt in die Flamme. Wir nehmen ihn aus dem Wagen, auf den Arm. Bene trägt ihn ein bißchen herum. Er schläft direkt ein. Ich nehme ihn Bene ab, lege ihn zurück in den Wagen. Er schläft. Stelle ihn ein Stückchen abseits, mit dem Rücken zum Feuer, aber so, dass wir ihn gut sehen können. Ari fragt ob es nicht zu kalt sei und Romy erzählt in Skandinavien würden die Kinder immer Mittagsschlaf draußen im Schlafsack machen, „Außer es werden -15 Grad“. Wir stellen es nicht in Frage und genießen, dass er schläft. Ich bin glücklich, voller Liebe für sie alle und strahle fremde Menschen an, die zurück lächeln. Das sind die Wellen des Glücks. Sie bricht als er beginnt zu quengeln. Ich schiebe den Wagen abseits der anderen ins Dunkle, neben dem Schild, das mit „Kompostklo“ beschriftet ist. Die Veranda des Wagens links davon leuchtet heimelig, mit rosaroten Laternen bestückt. Als Kira meine Stimme hört schläft er weiter. So niedlich sieht er aus, wie seine Nase unter der Mütze herausragt, die Augen geschlossen, unter Lidern mit langen Wimpern träumt er. Was träumen kleine Kinder?, frage ich mich und schaue ins Dunkel der Nacht, weg vom Feuer in das Wäldchen aus zierlichen Birken. Feingliedrige weiße Stämme umrahmt von nächtlicher Schwärze. Romy kommt dazu und bringt mir meinen Punsch. Stumm betrachten wir nun das Feuer. Wir lächeln uns an und dann weinen wir. Weinen weil er fehlt. „Er hätte das auch gemocht heute.“, sie nickt.

Der Elefant

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„Bist du alleinerziehend?“, fragt er mich. Fragt per Nachricht im DatingPortal. Ich vermeide es wenn möglich lange zu chatten. Schnell treffen. Nur dann kann ich wirklich abschätzen, ob ich eine Person mag, oder zumindest attraktiv finde. Hängt zusammen, bedingt sich aber nicht immer. Ich schreibe, dass ich alleinerziehend bin, aber nicht allein. Schreibe von meinen Freund*innen. Halte inne. Schreibe, dass es dennoch anders ist, als sich die Verantwortung zu teilen. Es ist ganz anders. Ich bin immer noch privilegiert. Die anderen kommen, wenn ich sie rufe, wenn ich sie brauche, aber die Morgende, die Abende, bin ich dennoch allein. Die Randzeiten. Heute Morgen schien der Januar von einem Hauch Frühling durchzogen. Ich trat aus dem Haus und zwei Handwerker standen da, schauten in den Himmel, ihre Arbeitsoveralls noch matt und dunkel im spärlichen Licht des Morgens. Aber der Himmel über den Häusern war erleuchtet. Ein Regenbogen quer über die Straße. Vom Giebel des einen Hauses zum Schornstein des anderen. Der Müll von Silvester liegt noch überall, Weihnachtsbäume dazwischen, trocken und nadelnd. Ich kickte einen zur Seite, der mein Fahrrad blockierte, setzte Kira in den Kindersitz. Als ich mich wieder umwandte, war der Regenbogen verschwunden. Aber die Luft war mild und es machte nichts, dass ich meine Handschuhe in der Wohnung vergessen hatte. Diese Milde ließ mich aufatmen, ich als würde eine Last von mir genommen. Leichtigkeit. Der Gedanke durchfuhr mich unwillkürlich, so würde ich mich vielleicht fühlen, wenn Johannes noch leben würde. Vielleicht auch nicht. Aber mit weniger Gewicht auf jeden Fall. 13kg wiegt er jetzt, Kira. Vielleicht hätte Johannes heute Morgen Kaffee für uns beide gemacht. So bringt mir Kira gerade stets eifrig die Milch aus dem Kühlschrank, wenn er sieht, dass ich mir Kaffee in meine Tasse schütte. Er klatscht, sobald er die Milch wieder in den Kühlschrank gestellt und die Türe zugedrückt hat. Patscht die kleinen Hände aufeinander, ich lächle dann. Wir chatten weiter. Aber der Elefant steht im virtuellen Raum. Was ist mit dem Vater? Er fragt nicht und ich schreibe nichts davon. Einmal hatte ich einen teasing flirty Chat, aus irgendeinem Grund kam das Thema auf. Schon in dem Moment, als ich die Nachricht abgeschickt hatte, in der das Absurde stand, „der Vater ist tot“, anders formuliert, leichter verdaulich aber trotzdem zu hart, schwarz auf weiß, wusste ich, dass dies gerade den Flirt getötet hatte. Ich hatte ihn getötet. Also ignoriere ich den Elefanten. Die Person scheint interessant. Wir teilen gemeinsame Themen, Inhalte. Wie erfrischend, dass es nicht ums Mutterdasein geht und nicht um den Tod, nicht um meine Trauer. Es regt meinen Kopf an. Bisher gibt es die offensiven Chats, sexuell eindeutig und verführerisch einfach und die inhaltlich anregenden. Geht beides zusammen? Oder braucht es gerade die Leichtigkeit der Oberflächlichkeit für mich im Moment? Das verletzte Herz schützt sich. Hätte ich eine versteckte Kamera könnte ich eine Bilderreihe starten, wie Männer kucken, wenn man ihnen beim ersten Date erzählt, dass der Vater des anderthalbjährigen Kindes, das man hat, vor nicht mal einem Jahr gestorben ist. Es amüsiert mich leicht. Ich darf nicht lachen, damit können sie nicht umgehen. Aber die Absurdität der Situation bringt mich zum Lachen. Es gibt da diese evolutionspsychologische These (nebenbei ich hasse Evolutionspsychologie), das Lachen eigentlich ein Zähnefletschen ist, eine Reaktion auf Inhalte die nicht zusammen passen, also Angst machen, eine Art Abwehr auslösen. Humor bannt und hält den Schmerz auf Distanz. Daran zumindest ist vielleicht schon etwas dran. Die einen reagieren geschockt, fragen dann aber nach oder fragen, ob es ok ist nachzufragen. Und dann gibt es die anderen. Das seltsamste war eine Person, die sagte: „Oh, I’m sorry.“ und dann nichts mehr. Ich meldete mich nicht mehr nach dem ersten Treffen. Bene sagt, ich sei ja nicht verpflichtet es zu erzählen. Das stimmt, aber ich kann es nicht nicht erzählen, außer ich würde mich treffen und mich gar nicht unterhalten. Das kann ich nicht. Außerdem müsste das woanders sein, als in meiner Wohnung. Denn hier steht der Elefant in jedem Raum und tanzt in meinem Kopf Chachacha. Die Unverbindlichkeit des Onlinedatings bringt es mit sich, dass ich entweder denke, es läuft gar nicht oder überfordert bin, weil ich mit fünf Leuten gleichzeitig schreibe. An meinen mackrigen Angeber-Tagen brüste ich mich, es sei eine Art Buffet. Ich kann mir aussuchen wer und wie und so viel ich will. Aber es bricht immer wieder an der Realität meines Lebens. Also spiele ich mit der Illusion. Meine Schwester Ari erzählte mir von ihrer Freundin Aliyah, die sich manchmal zum Spaß mit Männern trifft, mit denen sie eigentlich nichts gemeinsam hat. Einfach mal ausprobieren. Wir standen in einem alternativen Sexshop, der also nicht bloß Heterophantasien erfüllt. Hatten Kira die nicht besonders barrierearme Treppe im Kinderwagen hochgewuchtet. Die Verkäufer*innen starrten uns einen Moment lang an, es kommt wohl nicht so besonders oft vor, dass Kleinkinder diesen Laden aufsuchen. Ari und ich sehen aus wie eine queere Familie, sind wir auch, aber nicht so, wie die Leute dann denken. Wie die Person im Sommer im Freibad, die meinte sich sicher zu sein, wie seien doch das Paar, das sich in ihrer queeren Kita vorgestellt habe. Wir standen also inmitten von Strap-ons und Bondagematerial an der Wand kleine Skulpturen goldener Vulven. Die Verkäufer*innen hatten sich wieder gefangen und boten uns Tee an. Kira schlummerte nach 10min ein, von der Reizüberflutung und der leisen Musik eingeschläfert. Wir witzelten, dass wir das mit Kira jetzt noch machen könnten, wir aber in einem, spätestens in zwei Jahren den Absprung schaffen müssten. In seinem Sinne, aber auch, weil es echt strange wäre, wenn er in der Kita dann erzählen würde, das sich Tonkel Ari eine Gärte gekauft habe in einem Laden, in welchem an der Wand lustige kleine Penise aus Silikon hängen würden. Ari berichtete also von Aliyah und meinte, ich solle das doch auch mal machen, als ich ihr das Profil eines Typen zeigte, der aussah wie eine Mischung aus Buisnessmodel und Lenny Kravitz und mich angeschrieben hatte. Ich weiß nicht. Ich kann jetzt alles machen und nichts. Dirty Talk SMS während ich in der Kneipe mit Freunden bin oder Dates in der letzten Sekunde absagen, weil Kira hustet und nicht schlafen will. Die betreffende Person schon in der U-Bahn, aus dem Wedding angereist, „fast da“, schrieb er. Ich: „Sorry, aber es geht nicht.“.  Ich denke darüber nach, dass es ein Spiel ist, eine narzisstische Zufuhr und Ablenkung. Eigentlich hat das Englische ‚to fall in love‘ Recht, kommt mir in den Sinn, in die Liebe fallen. Sich fallen lassen. Das ist zu tief. Also spiele ich, um nicht noch mehr zu fallen. Vielleicht ein Crush, aber nicht zu tief. Um den Fall zu bannen. Kontrolle. Morgen fahre ich mit Kira in den Tierpark, auch zu den Elefanten.

Uups, it happend again.

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Schon wieder. Alles sieht aus wie Sau. Auf dem Sofa liegt noch so eine volle Windel, ich werfe sie in den Müll. In der Küche alles durcheinander und die Spülmaschine möchte ausgeräumt und neu eingeräumt werden, mit dem Geschirr, was sich schon überall sammelt. Wenn ich wenigstens schreiben könnte, das sich im Waschbecken stapelt, aber noch nicht mal das, alles steht irgendwo. Also fliehe ich ins Wohnzimmer. Zimmer habe ich genug. Eine 4-Zimmerwohnung für eine Erwachsene und ein Kleinkind. Ich sitze auf dem Sofa, nachdem ich die Windel entsorgt habe, umringt von zwei voll behangenen Wäscheständern. Ich bilde mir ein, die Wäsche sei noch halb nass, ich könne sie also noch nicht abnehmen. Aber Kira schläft und ich habe „frei“, oder so. In meiner DatingApp schreibt mir jemand von hemmungslosem Ausgleich im Privaten und ich frage mich, wie das in mein Leben passt. Mein Leben besteht fast nur aus Privatem, aber ohne Ausgleich derzeit. Das Kind wird sich hoffentlich diese Woche mal wieder richtig auskurieren, nachdem es Ohrenschmerzen und Erkältungen seit Wochen wiederkehrend mit sich herumschleppt. Die Kitaschließzeit der Feiertage ist zu Ende, aber ich musste einsehen, dass er diese Woche noch nicht wieder hingehen kann. Ohne die Hilfe meiner engsten Freunde würde gar nichts gehen. So konnte ich wenigstens zum Sport. Kira anderthalb Stunden mal bei Jan, bei Ari heute und immer wieder die kurzen Pausen unten in der WG mit Bene, die mich über den Tag retten. In den erschöpfenden Stunden bevor Kira ins Bett geht, mal kurz nicht allein mit ihm sein. Bene ist auch krank, das kommt mir zu Gute, denn so ist er zuhause. Ich war gut aufgehoben über Weihnachten, Silvester. Kira zwar angekränkelt, aber es ging alles besser als befürchtet und meine Laune war recht stabil. Das Rezept, ‚Alles anders als sonst‘, ging auf. Mit anderen Menschen und nicht zu Hause über Weihnachten, aber auch nicht wegfahren, nicht zu meiner Mutter, sondern zu Freunden. Nicht abends nach Hause in die leere Wohnung zu müssen. Vor Weihnachten dachte ich die ganze Zeit an Weihnachten, an letztes Jahr, an das Wissen, es würde wahrscheinlich das letzte gemeinsame sein mit Johannes. An die Hoffnung, die ich, sie für trügerisch haltend, versuchte zu ersticken, sie nicht weiter zu hegen versuchte, aber die manchmal aufkam, da es ihm ganz gut zu gehen schien. Ganz gut heißt, er lachte, er konnte spazieren gehen, immer die gleiche Runde, nie zu lang. Ganz gut heißt, er sagte zumindest noch einige Sätze, es war mir nicht klar was er alles verstand, aber es war klar, er verstand noch etwas. Ich wusste nie ob er gut gelaunt war, weil seine psychische Verdrängungsleistung so groß war, oder ob er tatsächlich begriff und aber auch noch Hoffnung hatte und beschlossen hatte, sich an diese zu klammern. Ob ganz gut hieß, dass die depressiven Verstimmungen, die er jahrelang hatte, im Angesicht des Unvorstellbaren, des Furchtbaren, nicht mehr wichtig erschienen, bedeutungslos geworden waren. Endlich frei, nicht mehr leisten müssen. Ich weiß es nicht. Oder begriff er nicht. Wenn einem ein Arzt sagt: „Wir können das nicht heilen. Wir reden hier von Wochen, Monaten, vielleicht ein paar Jahren maximal.“, sagt man dann der Person, die sterben wird: „Verstehst du? Hast du begriffen was das heißt? Das heißt du wirst sterben, und zwar bald.“? Ich habe das nicht gesagt. Hätte ich sollen? Ich weiß es nicht. Wie soll man sich in den Kopf von jemandem versetzen, dessen Kopf nicht mehr so funktioniert wie vorher, und wo niemand genau sagen kann, was genau nicht mehr funktioniert. Vielleicht hatte er manchmal Zugang zu allem und manchmal nicht. Das war jedenfalls mein Eindruck. Wenn er plötzlich vom Arbeiten redete, das er im Sommer wieder wollte. Aber wenn ich weinend davon sprach, dass ich Angst hätte ihn zu verlieren, schien er mir zu begreifen. Um Weihnachten herum war die Chemopause, es hieß abwarten ob sie anschlägt, das MRT abwarten. Es klingt abgegriffen, aber wir machten das Beste draus. Er sagte einmal, das Gute sei ja, dass wir jetzt so viel Zeit zusammen mit Kira verbringen könnten, wie wir es nicht könnten, wenn er gesund sei und immer einer von uns arbeiten müsste. Wir gingen am Kanal spazieren, als er das sagte, das Wasser dunkel in der frühen Dämmerung der Weihnachtszeit. Schwäne weiß und zwölf an der Zahl und ich musste an das Märchen der zwölf Schwäne denken, wo die Verdammnis, der Fluch am Ende gebannt wird. Und dann Silvester, zuhause mit einigen Freunden. Es nicht zu hoch hängen, sagte ich mir. Alle auf dem Dach um Mitternacht, außer ich. Ich mit Kira auf dem Arm am Fenster, der die Lichter anschaute und ruhig war. Ruhig und warm und ich hielt ihn fest. Ein Vorgeschmack auf das was kommen würde, dachte ich. Ich allein mit Kira. Ich schaute nach draußen. Ein Blick durch die Scheibe auf die Welt, die das neue Jahr feiernd beging. Dieses Jahr verschlief Kira den Jahreswechsel. Um 2h regte er sich und wollte nicht mehr allein in seinem Bett sein, also holte ich ihn zu den Anderen in die Küche, er lief vergnügt herum und holte seine Schuhe. Till sagte witzelnd, Kira hole seine Tanzschuhe und wolle ins Berghain gehen. Ein paar Tage später hatte er wieder Fieber. Nächster Infekt. Ohrenschmerzen, denn er jammerte und hielt sich die Ohren. Eine ganz leise Stimme im meinem Kopf fragte mich, ob er vielleicht auch einen Tumor haben könnte, keine Ohrenschmerzen, sondern Kopfweh. Ich antwortete nicht und sperrte die Stimme weg. Kleine Kinder zucken manchmal wenn sie fiebern. Unwillkürliche Muskelzuckungen nennt man das anscheinend. Nicht zu verwechseln mit einem Fieberkrampf, bei dem das Kind nicht ansprechbar ist. Als Kira vor Weihnachten wie am Spieß schreiend aufwachte und ihn ein Zucken durchfuhr wie ein Stoß mit einem Elektroschocker, er schrie und erneut zuckte, durchfuhr mich die Panik. Ich war allein, packte ihn, runter in die WG, niemand da. Panik. Er schrie und zuckte erneut. Ich wählte 112. Schilderte alles und als ich endete war das Zucken vorbei, er schlief auf meinem Arm. Der Mann am Telefon fragte, ob er jetzt einen Wagen schicken sollte oder nicht. Ich sagte nein, bedankte mich und legte auf. Telefonierte mit dem Notfalltelefon der Krankenkasse. Nicht hilfreich. Er schlief auf meinem Arm. Ich wagte nicht mehr ihn abzulegen. Der Arzt am nächsten Morgen in der Notfallsprechstunde im Krankenhaus wusste auch nicht so recht. Kein Fieberkrampf meinte er, kein Krampfanfall meinte er. Ich stimmte zu. Ich weiß wie ein Krampfanfall aussieht. Damit endete die Schonzeit letztes Jahr. Nach Silvester, Thermenhotel mit Johannes und Freunden. Ich wusste sofort, dass er es war der da lag. Epileptische Anfälle sind nicht selten bei Gehirntumorpatienten. Danach war Johannes anders. Ganz anders. Keine Energie, kein Lächeln, kein Funkeln mehr in den Augen. Das war vorgestern vor einem Jahr. Morgen vor einem Jahr haben wir geheiratet. Ich spule alles ab. Diese verrückten Tage, die so dicht waren. Mit Bene saß ich dann heute in der Küche beim Abendessen. Kira klopfte mit beiden Händchen auf den Tisch und verlangte mit Vehemenz, dass wir alle gemeinsam die Hände hoch in die Luft reißen, „och!“, krakelend. Dann reichte es ihm, „Bist du fertig? Satt?“, er schob sich und seinen Hochstuhl vom Tisch weg und versuchte sich aus diesem heraus zu aalen. Schafft er noch nicht, aber fast. Während Kira in seiner neuen Spielzeugküche spielte, erzählte ich Bene von allem und alles und wischte mir eine Träne weg. Wenn man mindestens ein Jahr verheiratet war, bekommt man Witwenrente. Waren wir nicht. Wir beantragen die Witwenrente trotzdem, sagt Bene. Wir versuchen es zumindest. Er versucht es, ich fülle mit ihm die Formulare aus, endlose Dokumente, endlose Informationen, sinnentleert, Bürokratie Deutschland. „Mitgliedsnummer der Krankenversicherung der Rentner. Noch nie gehört. Ich bin doch keine Rentnerin. Was zur Hölle wollen die von mir?!“. Wir redeten mal wieder darüber, was für diesen Antrag noch fehlt, was die Anwältin rät und dass wir das Auto ummelden müssen. Johannes Auto. Jetzt meins. Es ist so viel und es kostet mich so viel Energie, mich mit diesem ganzen Nachlasszeug zu beschäftigen. Erschöpft ließ ich den Kopf auf die Tischplatte sinken. Kira räumte gerade sein Lieblingskuscheltier, den Otter, der langsam schon ganz schön zerzaust ist, in das Fach seiner kleinen Küche ein, das glaube ich eine Microwelle darstellen soll. Türe zu. „Großartig.“, sagte ich, „Wenn du den Otter in der Microwelle grillst, können wir Ikea verklagen, weil sie nicht auf die Packung geschrieben haben, dass Tiere nicht in die Microwelle gehören, dann brauchen wir keine Witwenrente zu beantragen, sondern leben einfach vom Schadensersatz.“. Kira kuckte wenig interessiert zu mir hoch. Seine ozeanblauen Augen blitzten dann schelmisch, als er mein Lachen sah und er zog die kleine Nase krauss. Er wandte sich erneut geschäftig ab. Otter raus aus der Microwelle, Reh auf die Herdplatte, Tiger ins Waschbecken. Ich glaube wir müssen diesen miesen Antrag doch stellen. Ich lasse die Küche unaufgeräumt bis morgen, die Wäsche hängen und starre. Starre die Wand an.

Krebsgruppe

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Wir sitzen drinnen im Warmen, die seltene Wintersonne schafft es nicht ganz bis hier runter, obwohl die große Fensterscheibe des Cafés sich extra breit macht, um ein wenig Licht aufzufangen. Till sagt mir, er sitze lieber hinten, „da ist es gemütlicher“, aber ich liebe es am Fenster. Während die andere Person mehr Kaffee holt oder aufs Klo geht oder irgendjemanden begrüßen muss, weil man kennt ja immer irgendwen hier, sitze ich am Fenster und schaue hinaus auf die Straße. Blauer Himmel, der über den Häusern steht und den ich sehe, wenn ich den Kopf in den Nacken lege. Auf dem Balkon des dritten Stockwerks des Hauses gegenüber, rupft gerade eine Krähe einen vertrockneten Rest Balkonpflanze aus einem Topf und wirft ihn auf die Straße. Die lockeren Erdklumpen verstreuen sich im Wind, die schwereren Brocken fallen direkt zu Boden, auf den Asphalt. Die Krähe wirft den leeren Plastiktopf hinterher und fliegt dann weg. Till kommt zurück, ohne Kaffee mit leerer Blase dafür und mit mehr Klatsch und Tratsch. Draußen schließt Eva ihr Fahrrad an. Till und ich winken durch die Scheibe. Wie immer ist sie farblich abgestimmt. Heute mit zwei Sträußen Blumen im Fahrradkorb, deren Umwickelpapier, wie mir auffällt, zu ihrem Rucksack passt. Das ist Zufall. Heute sind die langen Nägel türkis und glitzern. Eva ist eine, die alles zusammenbringt, die vermeintlichen genderspezifischen Widersprüche vereint. Eine, die weiblich Assoziiertes zelebriert, die fürsorglich, weich und trotzdem vorlaut und taff ist. Bei der strukturellen Misogynie, ist das mutiger und queerer als sich einfach nur stark und androgyn zu präsentieren und das eigene Weiche abzulehnen, denke ich manchmal. Sie winkt zurück, bedeutet gestikulierend, dass sie auch gleich reinkommt. Sie hat müde Augen, als sie zu unserem Tisch kommt, sehe ich es. „Cooler Zufall. Euch hab ich ja beide schon ewig nicht gesehen.“, „Ja, wen man so trifft wenn, man mal frei hat unter der Woche. Wirklich, ganz andere Stadt. So wenig los auf den Straßen.“, lacht Till hüstelnd. „Nur Eltern mit Babys. Und Hundebesitzer.“ sage ich, „Und Arbeitslose, wie ich bald.“, sie lacht ihr lautes Lachen, das ansteckend wirkt. „Willst du dich zu uns setzen?“, „Ja, voll gerne, ich hab auch ein bisschen Zeit tatsächlich.“. „Cool.“, sage ich, „Jo, coolio.“, sagt Till. Sie holt sich noch was zu trinken, „Wollt ihr auch noch was?“, „Ne, gerade nicht, danke.“, als sie wiederkommt und sich mit Schwung setzt, kommt sie gleich zur Sache. „Wie geht es euch?“, fragt sie unverblümt und es interessiert sie wirklich. Ich atme durch und überlasse Till den Vortritt, denn es interessiert mich auch, wie es ihm eigentlich geht. Wir sitzen zwar schon eine Weile hier, aber ich habe ihn noch nicht gefragt. Wenn ich das frage, meine ich es auch so und meist frage ich erst nach einer Weile. Erstmal haben wir über Onlinedating und Szeneklatsch und Kuchen und somatische Wehwehchen geredet, über Demos, auf die ich nie gehe, weil es nie klappt und Till meinte, dass Greta, das wohl nicht löblich finden würde. Nun erzählt Till von seinem Vater, der hat auch Krebs, dem es gerade ganz gut geht und auf die nächsten Testergebnisse wartet. Eva erzählt von ihrer Mutter, die hat auch Krebs, nochmal einen andere Krebsart und der geht es auch gerade ganz gut, Chemopause. Dafür gibt es andere Familienprobleme und Krankheiten. Jetzt erklären sich Evas müde Augen. „Irgendwie denkt meine Familie, dass ich nur, weil ich Single bin und keine Kinder habe, da am meisten machen kann, mich um Oma kümmern kann. Mach ich auch ein Stückweit gerne, aber nicht nur, es reicht jetzt auch wieder.“, „Kann ich verstehen.“. Carework, die unsichtbare Arbeit. Frauenalltag. Irgendwann schauen sie mich an und das „Und, bei dir?“ kommt. Ich setze an und erzähle vom Schwierigen und vom Leichten, von Kira und meinen Versuchen mir wieder Sphären außerhalb des Mutterdaseins und der Trauer zu erobern. „Und dann bin ich plötzlich wieder so traurig. So Momente am Tag, wo ich einfach mal kurz heulen muss, die hab ich zur Zeit fast mehr als noch vor ein paar Monaten. Gerade mischt sich alles, ich glaub es geht mir grundsätzlich besser, deswegen können auch die schönen Erinnerungen mehr kommen, also ich kann sie vielleicht mehr zulassen, oder so. Aber ich habe auch Angst vor der nächsten Zeit. Die ganze Weihnachts- und Silvesterkacke, danach kommt der Zusammenbruch und das MRT Ergebnis Anfang Januar, die Hochzeit, mein Geburtstag und irgendwie dann eigentlich auch schon das Sterben. Ich würde gerade gerne vorspulen, zu Mai.“, ich stocke. „Aber irgendwie in all dem, bin ich nicht depressiv.“, sage ich ihnen. Es stimmt. Meine Trauer bringt mich aus dem Gleichgewicht. Mein kontrolliert kallibriertes Leben ist aus den Fugen. Aber das ist Leben, oder nicht. Auch früher war ich nie innerlich taub, melancholisch ja, aber immer mit dem Schuß verträumter bittersüßer Traurigkeit wie sie ein guter Singer-Songwriter Song einfängt. Diese wohlig schmerzhafte Schwere, mit welcher sich der Horizont in verwaschenen Blautönen auflöst, ein gut gesetzter Aquarellstrich in durchscheinendem Pastell. Das ist jetzt anders, jetzt ist die Traurigkeit nicht mehr wohlig, aber sie vergeht auch wieder. „Es ist wie Wellen. Die eine trägt mich hoch und dann bin ich auch echt gut drauf, leicht und frei und irgendwie auch oft voller Freude. Und auch echt dabei, ne. Also echt, ich meine wirklich, authentisch. Aber ja, dann kommt irgendwie die nächste Welle und unterspült das.“, „Und dann haut es einen umso krasser um.“. Er weiß, er kennt das auch. Sie sagen mir, es ist großartig, dass du diese guten Phasen auch haben kannst. „Manche sind ja nur in der traurig Phase, über Länger auch. Was ja auch ok ist, ich meine legitim. Es gibt ja kein Rezept für den perfekten Trauerkuchen.“ –„Kloß“, sage ich. Ich sehe die Tränen in Evas Augen glitzern, auch sie vermisst ihn, Johannes. Aber dann lachen wir über Geschichten von verwirrten Großmüttern, die Eva mit einer Prise liebevoller Belustigung erzählt. Wir kommen auf Chemoarten und den Unterschied zwischen Tablettenchemo und Infusionen. Ich erzähle, dass Romy und ich an der Ostsee einen bescheuerten Krabbentanz mit dem schlafenden Kira in der Wanderkraxe auf dem Rücken aufgeführt haben und Bene und Jan ein Gif Video davon gemacht haben. „Wir haben erst danach festgestellt, dass es vielleicht etwas komisch ist, weil es ja ein Krebsvideo ist.“. „Pietätlos“, sagt Till und wir lachen erneut. Über das Leben, den Tod und weil alles so verrückt ist.

umstrittene Bilder

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Wir sitzen auf dem Sofa und reden über seine Zimmereinrichtung. Kira zwischen uns. Jan will umräumen, auch das Zimmer streichen, neue Bilder vielleicht. „Was soll wo hin? Was denkst du?“. Ich überlege, „Was ist mit dem Bild?“. Aus dem Augenwinkel sehe ich es, das ertappte Lächeln. Ich schaue ihn direkt an, „Das ist von ihr, richtig. Sie hat es dir geschenkt.“. Es ist keine Frage. Das Bild ist schön, es leuchtet. Es steht angelehnt an die Wand auf der Kommode. „Deswegen hängt es nicht, weil du dich nicht entscheiden kannst?“. „Ja, es ist umstritten. Es gibt noch mehr umstrittene Bilder.“, lächelt er. „Umstritten. Aha.“, grinse ich. Wir tauschen einen Blick. „Wo? Darf ich sie anschauen, die ‚umstrittenen‘ Bilder?“. Er deutet auf das Regal, „Da. Und klar, schau sie an“. Er hat übertrieben. Es sind nicht so viele Bilder. Er mag die Übertreibung, manchmal. Er mag den Exzess, kontrolliert. Er mag es nicht Kontrolle abzugeben. Aber er mag es damit zu spielen. Kira wird unruhig. Die beiden albern. Kira quietscht vor Vergnügen und wirft sich nach hinten. Er weiß, dass er gehalten wird. Vertrauen. Er lacht. Laut und glockenhell. Jan prustet ihm auf den Bauch. Ich stehe am Regal und nehme die gerahmten Bilder aus dem Fach. Das Oberste liegt mit dem Motiv nach unten. Das ist Absicht. „Umgedreht?“, lächle ich. „Eigentlich ist nur das Eine wirklich umstritten, das Umgedrehte.“, grinst er, kurz aufblickend, dann wieder über Kira gebeugt, der versucht Jan seine kleinen Finger in die Nase zu rammen und dabei zufrieden gurrt. „Ah, ja stimmt, die anderen sind ja gar nicht umgedreht. Aber ganz ehrlich, das hier ist ja wohl nicht umstritten, es ist doch wohl klar, dass du das nicht mehr aufhängen kannst, außer du schneidest den Teil ab, wo sie drauf ist, was aber auch echt komisch wäre.“. Er sieht süß aus, wie er da steht, ertappt und irgendwie froh darüber. „Umstritten, zwischen wem überhaupt, wer streitet sich? Deine verschiedenen Anteile?“, frage ich. „Ja ok, ich kann das nicht aufhängen, hm. Aber eigentlich ein schönes Bild. Auch viel Landschaft.“ Er tritt hinter mich und wir betrachten einen Moment lang das Bild. Ich lege es zurück, umgedreht. Ich drehe mich zu ihm um, er ist ganz nah. 

Als ich abends zuhause bin, sehe ich sie. Ich nehme sie wahr, die Jacken an den Haken an der Wohnungstür. Die Garderobe, die ich nie benutze. Ich habe blinde Flecken, statt umstrittener Bilder. Kira ist gerade eingeschlafen, ich komme aus seinem Zimmer, bin selbst verpennt und verstrubbelt vom ins Bett Bringen und ich stehe im Flur, der hell erleuchtet ist. Die Lampe ist riesig, mehrere Birnen. Alt. Er hat sie besorgt. In irgendeinem Trödelantikladen. Johannes fand immer solche Sachen. Altes, Benutztes, Gebrauchtes, vielleicht etwas kaputt, aber es taugte noch. Wiederverwenden und Finden, das mochte er. Reparieren auch. Bevor ich ihn kannte, wusste ich nicht, dass Menschen wirklich so was wie einen Lötkolben besitzen und ihn benutzen. Meine Eltern haben, als ich klein war, nicht mal selber einen Fahrradreifen gewechselt. Ich nehme die Jacken kurzerhand und halte sie aber von mir weg, vermeide es an ihnen zu riechen. Ich habe Angst, dass sie immer noch nach ihm riechen, dass ich dann heulen muss, oder kotzen, oder beides. Ich fürchte, dass sie nach Tod riechen, nach Krankheit oder vielleicht noch schlimmer, nach Geborgenheit. Ich gehe in mein Wohnzimmer und mache den Schrank auf, seinen Schrank. Alles darin ist noch von ihm. Kleidung, Eishockeysachen. Ich stopfe die Jacken in eins der Fächer. Schrank zu. Kurz setzen. Ich setze mich aufs Sofa, eine Art Podestbett, neu. Also alt, gebraucht, von Ina aus der WG unten, aber recht neu hier. Nicht seins. Nur meins. Meine Wohnung jetzt. Nicht mehr unsere. Eigentlich wollte ich nie in diese Wohnung ziehen. Ich wollte sie für ihn und Ina, für uns auch ja, aber weiterhin mit meinem Zimmer in der WG unten mit meinen Mitbewohner*innen Bene und Jelda. Mein Zimmer, in dem ich lange Jahre gewohnt hatte, wollte ich nicht verlassen. Ich träumte von dem Projekt ihn nah zu haben, aber doch nicht nur als Paar zusammen zu wohnen. Ein Kind mit ihm großzuziehen, aber mit anderen Bezügen als nur die Kleinfamilie. „Das Leben hat echt nen Schuß.“, denke ich. Eine Art bitterbösen Humor hat es, denn nun ziehe ich Kira groß, mit anderen Bezügen, als nur die Kleinfamilie. Mein Netz ist nun Kiras Kleinfamilie, mein engster Freundeskreis, meine Schwester. Als klar wurde, dass es zu hellhörig ist, dass Ina das zu viel würde, mit Baby zusammen zu wohnen, weil sie sowieso schon nicht gut schlafen kann, war ich zunächst untröstlich. Wütend und enttäuscht. Dann zog ich hoch in die neue Wohnung, Ina in mein altes Zimmer, runter in die WG. Und es funktionierte. Johannes und ich, wir waren gut zusammen. Wir wohnten gut zusammen. Aber ich dachte immer, es ist auf Zeit, wenn Kira älter wäre, würden wir mit der WG wieder durchtauschen, vielleicht zumindest. Es war auf Zeit, aber anders als geplant. Mein Handy piept und ich öffne ein Foto von der Wand in Jans Zimmer #neueBilderneueZeiten steht darunter. Ich mache mit dem Handy ein Foto von den leeren Haken an der Tür, #StepByStep und drücke auf Senden.

Winterträume

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Ich träume. Eis überall. Wir stehen am Strand, tiefe kalte Wintersonne. Der Sand hart, gefrorene Eisrinnsaale in den Mulden, die das Wasser zuvor geformt hat. Das Meer steht. Kalt, glatt, fest gefroren, Eis. Wann friert das Meer denn hier zu? „Eigentlich nie“ flüstert mein Ich. Rosa, weiss, grau, blau liegt der Himmel in Schichten über dem Horizont. Irgendwoher zieht Dunkelheit auf. Du willst Schlittschuhlaufen. Ich habe Angst. Ich möchte nicht, möchte nicht, dass du das tust. Bleib am Strand. Du hörst nicht, du trotziges Kind. Ich habe Angst und bin so wütend. Du strebst zum Meer, möchtest auf das Eis. Ich nicht. „Das Eis trägt nicht.“ hört mein Ich mich flehen. „Geh nicht, tu das nicht!“. Du bist so stur. „Da sind Löcher im Eis, es trägt nicht, du wirst einbrechen.“, ziehe ich dich am Ärmel. Du strebst von mir fort, siehst mich nicht an, das Gesicht der eisigen Weite zugewandt. Vielleicht weine ich, vielleicht breche ich. Nicht ein, zusammen. Bestimmtheit in der Stimme: „Ich kann da nicht mit, ich kann da nicht mitkommen, ich kann dich nicht begleiten. Ich komme nicht mit.“. Wach. Ein Traum im Sommer.

Hoch sind die Berge. Steile Gipfel. Klaffen steinige Kanten auseinander, grau und dunkel. Schatten. Und Schnee. Weißer Schnee. Eine Zackenkrone von Gipfeln in meinem Rücken, stehe ich am Abgrund. Kalte Füße, schmerzende Zehen, unsicher auf dem Boden, auf dem man nicht haftet. Eis. Eis kann weich erscheinen. Wenn man einen Eiswürfel unter fließendes Wasser hält, schmilzt die kantige Würfelform und glänzende Bögen und Wellen entstehen. Ganz glatt. Aber nie wirklich weich. Meine Augen sehen nichts als die Scholle unter meinen unsicheren Füßen, die Halt suchen, aber rutschen, abgleiten. Vor mir der Abgrund, unter mir das Eis, dunkel, kalt. Die Nacht zieht auf. Alle Muskeln ziehen sich zusammen. Falle ich? Wach. Ein Traum im Herbst.

Ich fahre Auto. Im Parkhaus. Alles grauer Beton. Fahles Licht, Neonlicht gemischt mit Tageslicht von grauem Himmel. Farblos irgendwie. Das Parkhaus ist groß. Die Seiten sind offen. Muss ich parken, oder muss ich hier raus? Ich muss fahren. Die gewundenen Parkhausstraßen entlang. Hoch und runter in die verschiedenen Parkdecks. Alles ist gerade und glatt, irgendwie auch sauber. Ich muss einen Weg finden. Ich finde ihn nicht, es geht nicht. Ich merke, dass es neben den Parkhausstraßen auch Rodelpisten gibt, die das Parkhaus durchziehen. Die meisten führen aber oben auf dem Dach entlang. Gefrorene Wege, weiß und glatt. Ich wechsle auf die Rodelpiste. Mein Schlitten ist aus Plastik und schlittert hart auf dem Eis. Es geht vorwärts. Ich versuche zu lenken. Die Kreuzungen und Abzweigungen rauschen vorbei. Ich weiß, ich muss die nächste Linkskurve kriegen. So scharf geht diese ab. Kira ist auch dabei, bemerke ich nun. Ich halte ihn fest. Er rutscht halb vom Schlitten, weil ich ihn halten und gleichzeitig lenken muss. Mein Fuß stemmt sich mit der Kannte hart in die Bahn, um den Schlitten zu drehen, nach links. Wach. Ein Wintertraum im Winter.

„Von gefrorenen Gefühlen kann man bei Ihnen ja eigentlich nicht sprechen“

„Finde ich auch nicht.“

„Was ist das mit dem Eis dann?“

„Ich weiß nicht.“

Ich überlege, lasse mich treiben in den Assoziationen. Mir kommen Wintertage mit gefrorenen Seen in den Sinn. Bilder überschwemmen mich. Tiefe Sonne vom strahlend blauen Himmel. Schilf, das von Raureif gebannt, wie Zahnstocher aus dem Eis ragt. Rosa ziehen Streifen am Horizont auf, alles pastell, meine Wangen rot. Meine Nasenspitze ist kalt, immer. Seine nie. Ich fahre, gleite, wir fahren über den See. Der See singt. Das Eis schwingt unter der Sonne und klirrt ohne zu brechen, ein Konzert des Spätnachmittags. Wenn die Temperatur sich plötzlich verändert, passiert das, habe ich gelernt. Es tönt so laut, dass ich erschrecke, aber er lacht. Und fährt vor, die Kufen zeichnen Linien auf dem dunklen Eis, mit weißem Stift. Ich friere die Bilder ein.

Tanzapfel

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„Habe ich Sie da jetzt zu sehr draufgestoßen?“, „Nein.“, erwidere ich. „Vielleicht.“, denke ich, auf der analytischen Couch liegend. Aber es ist ok, wozu bin ich sonst hier. In der Wohnung über der Praxis gab es vor Monaten wohl einen Wasserschaden und die bräunlichen Flecken an der Decke über mir passen so gar nicht zur gediegenen Westberliner Altbauwohnung mit langen Fluren und schweren Teppichen. Aber sie bilden lustige Klecksbilder. Man könnte bestimmt darüber reden, wer was in ihnen sieht und das hübsch analytisch deuten. Er fragt wie er war, Johannes. Möchte ihn sich nochmal in Erinnerung rufen, das Bild, das ich ihm über die Jahre gezeichnet habe auffrischen. Ich habe die letzten Monate vor allem das Anstrengende erinnert, was das letzte Jahr war und auch was in unserer Beziehung anstrengend war und es wohl auch weiterhin gewesen wäre, auch wenn Johannes nicht gestorben wäre. „Dann tut es nicht so weh.“, flüstere ich. Wenn ich mich in das flirrende Traumland der ersten drei Lebensmonate von Kira begebe, das Davor, vor dem Krebs, wo die Sonne durch sommerliches Laub funkelt und das Wasser der Brandenburger Seen von unsere Haut perlt, Eis in der Waffel schmilzt und ein nacktes Baby kleine Hitzepickel bekommt, dann flammt der Schmerz auf. Ich erzähle von unseren Streits darum, dass er weniger arbeitet, sich besser abgrenzt. Von Enttäuschungen meinerseits, wenn er Arbeit mit in unser verlängertes Wegfahrwochenende nahm oder grantig und schweigsam auf meine Stimmung drückte, keine Lust auf den verabredeten Spieleabend. Das ist meine Form der Abwehr. Vielleicht ist das zu negativ. Es macht es möglich weiterzumachen. Ein neues Leben. Sehen welche Wege jetzt gangbar werden. Welche Abzweigungen, von denen ich dachte, sie nicht mehr zu gehen, nun doch einzuschlagen. Neugierig. Vielleicht sind auch einige dabei, auf die ich von meiner Bundestraße aus neidvoll schaute und doch irgendwie entschied, dass man nicht alle Pfade gehen kann. Spurhalten. Ich hatte einen Drive und wollte dann auch doch nicht anhalten. Aber wenn die Straße auf der man sich befindet in einer Betonmauer endet, macht das die Entscheidung für die gewundenen Trampelpfade einfacher. Weil, wer will schon an grauem Stahlbeton zerschellen. Gegen die Wand. Ich nicht jedenfalls. Und dann fahre ich nach Hause, mit dem Fahrrad durch den Nieselregen, den November. Meinen neuen Fahrradhelm auf dem Kopf. Seit Monaten brauchte ich einen neuen, aber alle meine Helme hat immer er gekauft, mir mitgebracht und ich konnte mich nicht aufraffen, mich damit zu beschäftigen. Da war er pedantisch, immer mit Helm, nie ohne. Wenn ich die letzten Monate ohne Helm fuhr, stets mit einer Prise Scham, wie ein unartiges Kind. Nachlässig. Gerade mit Kind hat man doch eine Verantwortung für das eigene Leben. Aufzupassen. Trotzig erwiderte ich im inneren Dialog mit ihm: „Der Helm hat dir am Ende auch nichts gebracht!“. Er sagte nichts. Gegen einen Toten hat man immer das letzte Wort. Jetzt habe ich wieder einen Helm. Jan sagt, er sehe aus, als hätte ich ihn schon immer, was glaube ich ein Kompliment sein soll. Ich fahre immer geradeaus, vom bourgoisen Berliner Westen nach Hause in den Tummelkiez für Hipster und Hundehäufchen. Spiele Fangen mit der Person hinter mir, die bei jeder roten Ampel, an der ich halte, von hinten heranschießt, darüber fährt, um dann wieder von mir eingeholt zu werden. Ohrstöpsel in den Ohren. Nichts los sonst hier, der Berufsverkehr ist vorbei und wer hat auch schon Lust im November noch Fahrrad zu fahren. An der Kreuzung Ecke Potsdamer Str. hält sogar die Ohrstöpselfangmichdoch Person bei dunkeloranger Ampel an. Schräg gegenüber leuchten die Äpfel auf der Obstauslage des türkischen Supermarktes rotwangig. Es wird grün und ich fahre weiter. Und dann ganz schnell ist es da und ich tauche ein in das Bild. Ich höre das frische Knacken des Apfels und schmecke den süß-sauren Saft, der meinen trockenen Partymund fruchtig erfrischt. Wir tanzen. Die in neon Farben gemalten Tiere leuchten im Takt der blitzenden weißen Lichter von dunklen Wänden pink, orange, grün. Hinter Säulen im Halbdunkel räkeln sich Gestalten auf abwaschbaren Sofen. Die Nässe ist warm. Schweiß. Nebel. Und noch mehr. Wir tanzen. Ina leuchtet und Johannes strahlt. Wir tanzen. Silbern glitzernde Lider beim Augenaufschlag und ich lache und ihre Küsse vermischen sich mit der Süße des Apfels. Ich fahre weiter unter den Schatten der Yorckbrücken hindurch und salzige Tränen vermischen sich mit dem kalten Nieselregen auf meinem Gesicht. Tanzäpfel, so hat er sie genannt und er hatte immer ein oder zwei dabei. Im Hipbag auf der Tanzfläche im Blank, im KitKat. Wenn alle noch rumstanden tanzte er schon, meine Gehemmtheit übergehend, was mich, mit meinen sozialen Ängsten konfrontiert, manchmal gereizt und grantig werden ließ, aber manchmal auch mitreißen konnte. Ich esse keine Äpfel mehr. Nicht zurzeit. Keinen Eintopf und kein Holunderblütengelee. Aber ich habe wieder einen Helm.

Kindercafé

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Manche Cafés diskutieren endlos darüber, ob es ein zu großer Schritt in Richtung Kindercafé wäre, wenn sie einen Wickeltisch hätten. Das hab ich nie ganz kapiert. Seit heute verstehe ich, warum man sich in der panischen Angst zum Kindercafé zu werden, zu Blüten der Ausgrenzung care-arbeitender Personen hinreißen lässt. Einen Wickeltisch zu haben, heißt Personen mit Kind die Möglichkeit zu geben ihrem Sprössling die Scheiße wegzumachen ohne, dass sich das Kind im Winter bei 5Grad minus den Hintern abfriert, weil die Wahl ist, es auf einer Parkbank zu wickeln oder den schnellstmöglichen Weg nach Hause anzutreten. Die Personen, die das meist machen sind natürlich die Mütter. Nur so nebenbei. Aber hätte ich ein Café, würde ich um nichts auf der Welt gern zum Kindercafé werden. Nicht nur zum Café in dem mal ausnahmsweise ein Kinderwagen in der Ecke steht und auch nicht nur zum Café mit Kinderspielecke, wobei man sich hier schon in gefährliche Nähe begibt. Wie ich gelernt habe, ist ein richtiges Kindercafé ein Café vor allem für Kinder. Ein Ort wo die Mütter (und zwei Väter in drei Stunden, ich habe gezählt!) hoffen einen Kaffee trinken zu können, möglicherweise den ersten am Tag, weil zuhause die Milch alle war, um dann eine halbe Stunde auf den Kaffee zu warten, während Nerven immer weiter offen gelegt werden, da die Lautstärke eher an einen Club und der Sauerstoffgehalt eher an eine Raucherkneipe herankommt. Und verdammt, es ist morgens um 10h und wir sind nüchtern und ohne, oder zumindest mit zu wenig Koffein im Blut. Blank liegen sie dann, die Nerven, wenn das eigene Kind nach einer Stunde heult, weil die versprochene Waffel immer noch nicht da ist, Aurora vom Nebentisch den Bagger nicht hergeben will und Wilhelm vom Tisch gegenüber gerade das Schaukelpferd die dreistufige Treppe zum Bällebad hinunterwirft, während seine Mutter dem anderen Kind mit dem man da ist erklärt, dass das Boot auf dem Tisch Wilhelm gehört und es deswegen nicht zum Spielen freigegeben ist. Alle heulen und am meisten Aurélie, die komplett in altrosa unterm Tisch hockt und sich seit 10min nicht überreden lässt hervorzukommen, obwohl ihre Mama sie die ganze Zeit so lieb bittet, weil sie müssen ja los und sie sogar Chérie nennt. Das ist das Vertrackte, man beginnt die meisten Mütter zu hassen, obwohl man ja auch eigentlich erstmal die Väter hassen könnte (oder oh, die Gesellschaft), die nicht da sind, augenscheinlich. Manchmal sonntags, ja, da trifft man dann plötzlich 8 auf einmal morgens auf dem Spielplatz an, aber die Vormittage unter der Woche gehören den Müttern. Wer gedacht hätte im Hipsterbezirk träfe man nunmehr nur Väter mit Kindern, hat sich getäuscht. Aber was soll man auch machen, wenn Christian (Jochen, Markus, oder wer auch immer) einfach mehr verdient? Wie soll man sich sonst die Miete hier noch leisten und das nicht mal bei einer 4-Zimmer Wohnung, nein, man quetscht sich, obwohl man sich früher vorgenommen hatte, nie ein gemeinsames Schlafzimmer, sondern jeder sein eigenes Zimmer, wenn man schon zusammen ziehen sollte, ja, aber da hatte man die Rechnung ohne den Wirt gemacht, beziehungsweise den Mietspiegel. Der Wirt hier, also in dem Fall die Wirtin rutscht gerade auf der broschierten Ausgabe der Raupe Nimmersatt aus und landet mit einem lauten Knall auf dem Hintern, der alle kurz verstummen lässt. Ich frage mich, wie sie das aushält. Welche Verkettung unglücklicher Ereignisse hat dazu geführt, dass sie ein solches Kaffee eröffnet hat. Und, mag sie ihre Arbeit? Claire raunt mir die gleiche Frage zu und wir schauen uns schulterzuckend an. Andererseits habe ich mich seit Langem nicht mehr mit einer meiner Freundinnen mit Kind so lange im Beisein der Kinder unterhalten. In der Öffentlichkeit, mit Kaffee. Und das in ganzen Sätzen und mit mehr als einem Satz zu einem Thema. Meist führen Treffen mit Kindern dazu, dass man sich einzelne Sätze hinwirft, dann wieder dem einen Kind hinterherrennt um dann das nächste Thema mit dem nächsten Satz zu streifen. Themen, Gedanken, Erlebnisse, wie Bälle einander zugepasst aus dem vollen Lauf heraus, die Augen dabei dem Kind folgend: „Kira nicht die Schere!“, „Lass den Pfefferstreuer stehen!“, „Nicht auf die Straße!“, „Nicht hauen!“. Hier spielen die Kinder, kommen auf den Schoß, spielen wieder. Möglicherweise ist es doch ein Ort für uns, denke ich und beuge mich zu Claire vor, um besser zu verstehen, was sie mir von ihrem neuen Job erzählt. Mit erhobener Stimme, um über altrosa-Aurélies kreischendes Weinen hinweg zu mir zu dringen.