Es war einmal…

IMG_0757Im Hinterhof sitzt ein verletzter Vogel. Kann nicht fliegen. Versucht seine Federn zu ordnen, zerzaust. Irgendein Sturm hat ihn aus dem Nest geweht. Eine Krähe ihn attackiert. Der verletzte Vogel ruft mit dem Lied der Verzweiflung. Wen er ruft bleibt unklar. Er ist kein Kücken, er weiß, dass keine Mutter herbei eilt. Er ruft dennoch. Vielleicht kommt der Fuchs. In ein paar Stunden erst, wenn sich die Dämmerung breit macht. Vielleicht ruft der Vogel den Fuchs. Wer weiß.

Ich sitze am Küchenfenster und schaue in den Hof. Trauer ist tückisch. Eben schlief sie noch. Fast dachtest du sie wäre fort. Dann beißt sie zu, plötzlich, hart und schmerzhaft scharf. Ich fühle mich leer. Meine Welt ist ärmer geworden und es fühlt sich an, als würde all der neue Reichtum, den ich versuchte die letzten Monate anzuhäufen, sich im kalten Wind wie Asche zerstreuen. Die Müdigkeit umso stärker zurück schlägt. Tage voller Erlebnisse. Tanzen, wieder arbeiten, Dates, Geburtstag feiern, Emotalk mit Jan, Sport mit Romy, Essen mit Bene. Erschöpfung. Es gibt diesen Teil, der weiß, es wird wieder anders, es wird wieder leichter, es wird wieder andere Tage geben. Aber dieser Teil heißt Vernunft, aber wird heute nicht vom Gefühl getragen. Gestern nicht und auch nicht Vorgestern. Die Traurigkeit ist so groß. Ich fühle mich alt. Als hätte ich in einem Jahr viele Jahre gelebt. Sie sagen nein, wenn ich frage, ob ich alt und verbraucht aussehe, in den Momenten, in denen ich schwach Rückversicherung brauche. Ich zähle alles auf was war. Eine Liste, die mir versichert, dass es in Ordnung ist mich schwach und klein zu fühlen. Dem inneren strengen Wächter, der Stärke fordert, lese ich sie vor. Schwanger sein, Kind gebären, Säugling haben, Johannes eine Woche krank im Bett, langsam aufsteigende Panik in mir, Das ist keine normale Grippe oder so, Johannes sagt verrückte Dinge, Krankenwagen, er allein im Krankenhaus, ich bei Kira, Anruf aus der Klinik, möglicherweise Enzephalistis, ansteckend, Angst um Kira, Anruf aus der Klinik, Gehirntumor, es allen sagen, Krankenhaus Besuche, OP, Diagnose, Todesurteil Glioblastom, Hospizplatz Anmeldung für später, zuhause Chemo, veränderter Johannes, geistig verwirrt, manchmal klar, Baby und Chemoalltag organisieren, Ödem, Krankenhaus, Kortison, zuhause, Feiertage mit der Ahnung es seien die letzten gemeinsamen, Thermenausflug, Wellness, so schön und dann so schrecklich, Epileptischer Anfall in der Therme, Ich beim Stillen, der Schlag, er liegt, Krankenhaus, zuhause, Hochzeit, Arztgespräch, die Chemo schlägt nicht an, Diskussionen über andere Therapiemöglichkeiten, Johannes verfällt vor meinen Augen, stummer, schwächer, wütend, traurig, deprimmiert, aber ohne Worte, er geht nicht mehr raus, keine Spaziergänge mehr, er wäscht sich nicht mehr, sitzt nur auf dem Sofa, Bauchkrämpfe, Krankenwagen, Klinik, Willkommen in der Palliativversorgung_____________________________________________________hier sind wir jetzt. Es ist Februar.

Wir fahren mit den Fahrrädern. Die Straße ist leer und ich hole auf, fahre neben ihm. Ich drehe meinen Kopf und winke Kira, der hinter Johannes im Fahrradanhänger gluckst. Ich lächle. Die Wiesen im Mai sind so grün. Der Flieder blüht. Der betörende Duft strömt in einer sanften Böhe des Frühlingswindes vorbei. Ich atme ihn tief ein. Wir fahren durch die Alleen Brandenburgs. Die Wipfel der Bäume wogen über uns. Die Blätter noch hellgrün. Wir biegen ein, in den kleinen Weg, der zum See führt. Der Sandboden ist noch fest. Im Sommer muss man hier absteigen, weil der weiche helle Sand, der die trockenen Kiefernwälder bettet, dann so lose ist, dass die Fahrräder stecken bleiben. Bis auf die ältere, bereits braun gebrannte Frau mit dem großzügig geblümten Badeanzug, die in ihrem mitgebrachten Klappstuhl sitzt, ist niemand hier. Der Strand ist weit und hell und der See breitet sich klar und glänzend vor uns aus. Er ist bereits geschäftig dabei alles auszuladen. Die Decke ausbreiten, um einen der Buchenstämme herum alles drapieren. Kira hat er bereits aus dem Wagen geholt. Der stapft hinter ihm her durch den Sand und hat sich einen Stock geschnappt, mit dem er im Sand bohrt. Kira erzählt. Noch versteht man nicht was. Vielleicht erzählt er vom Fahrtwind, vielleicht von der Ameise, die er heute Morgen genau betrachtet und dann versucht hat zu essen. Johannes erklärt ihm mit ernsthafter, warmer Stimme was er tut. Sie lachen, Kira kreischt „Guck, guck.“, rennt hinter den Baum und versteckt sich, späht hervor und kichert. Ich muss nichts tun. Lasse ihn machen und als er zu mir kommt und fragt, ob es ok ist, wenn er direkt ins Wasser springt, küsse ich ihn. „Klar, geh! Ich schau mal, ob Kira schon was essen will.“, „Ich hab die Box mit dem Obst oben in meinem Rucksack. Wirklich ok, wenn ich schnell…“-„Jaaa. Na los, mach schon, frag mich nicht dreimal.“. Ich scheuche ihn mit der Hand fort und lächle dabei. So ist er. Er braucht die Beteuerung, dass es ok ist, wenn er sein Ding macht. Manchmal bin ich leicht genervt davon, aber wir sind so eingespielt und er weiß mittlerweile, dass es mir zwar wichtig ist, dass wir verbunden sind, aber dass ich es immer unterstütze, wenn er sagt was er will. Auch wenn ich vielleicht gerade etwas anderes will. Er ist so schnell ausgezogen. Mit einer Badehose hält er sich nicht auf. Rein ins Wasser. Mir ist es noch zu kalt zum Baden. Aber Johannes ist schon im März zum ersten Mal ins Wasser gesprungen, nur kurz untergetaucht zwar, aber „Anbaden“, wie er es nennt, kann man ja schon mal. Die Verschnaufpause, in der ich mich nicht um Kira kümmern musste, macht, dass ich nun wieder Lust habe, mich mit ihm zu beschäftigen. Ich packe ihn und vergrabe mein Gesicht in seinem Bauch, während er jauchzt. Wir suchen gemeinsam die Apfelschnitze, die Johannes geschnitten in einer Tupperbox eigentlich immer dabei hat. Meine neurotische Angst Kira könnte an einem Apfelschnitz ersticken, lacht Johannes weg, aber ohne, dass ich mich ausgelacht fühle. Er strahlt so viel Vertrauen aus in dieses Kind, dass ich mich entspanne und alle Sorgen bezüglich bedrohlicher, schneewittchenhafter Szenen loslassen kann. Kira hat in jeder Hand ein Stück Apfel und schmatzt genüsslich. Johannes sagt, das hat er von mir, ich würde auch manchmal solche Geräusche machen. Dann lächle ich verschmitzt und beteuere, dass ich durchaus auch weiß mich zu benehmen. Kira an der Hand gehe ich den etwas abschüssigen breiten Strand hinunter zum Wasser. Wo ist Johannes? Eine kurze eiserne Furcht fasst mich, nicht das er einen Krampf im Bein hatte, bei diesen Wassertemperaturen schon möglich. Aber ich sehe ihn links hinter dem Schilfrand. Er winkt. Er strahlt und schwimmt mit schnellen Zügen auf uns zu. Das Wasser perlt von seinem sportlichen Körper, als er aus dem Wasser steigt und er spritzt uns mit kleinen Tropfen nass, den Arm um mich legend. Kalt und doch voller Leben.

Das wird nie passieren. Der kommende Mai liegt hinter den hohen steilen Gipfeln des Märzes und des Aprils verborgen. In deren scharfkantigen Spalten lauern Siechtum und Tot, aber es führt kein Weg an diesem Gebirge vorbei. Noch liegen die höchsten Pässe vor mir. Wenn sich die grünen Weiten des Mais vor mir ausbreiten werden, wird es nicht dieser Mai sein. Dieser Mai ist in meinem Kopf. Die Fantasie über die Zukunft, die ich hatte, damals vor hundert Jahren, als Kira gerade einen Monat alt war und Johannes lachend sagte: „Wart’s ab, wenn sie dann anderthalb oder zwei sind, dann werden sie erst richtig süß. Dann können wir im Frühling Fahrradtouren mit dem machen.“. Es sind diese Märchen im Kopf, die das Narrativ des täglichen Lebens strukturieren. Vage und sonnige Vorstellungen über das was kommt. An sie zu denken, erlaube ich mir erst jetzt. Ganz langsam. Sie sind wie Nadeln ins Herz, spitz und lang. Die Realität gleicht nie diesen Fantasien, aber jetzt könnte sie nicht weiter von ihnen entfernt sein.

Der Vogel hat aufgehört zu rufen. Ich sehe ihn nicht mehr. Die Krähen kreisen über der Platane und unter grauem Wolkenhimmel. Sie kreischen.

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