Postschwangerschafts Brüste

 

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Ich stehe in der Umkleide der Sauna. Niemand hier. Ich ziehe mich an. Betrachte im hellen Neonlicht die feinen blassen Streifen auf meinem Oberschenkel. Keine Schwangerschaftsstreifen am Bauch, trotzdem dieser riesig war. Aber dann die letzten Wochen vor der Geburt, als das Wasser sich in meinen Beinen staute, diese feinen Linien, erst lila, jetzt weiß. Ich stehe versteckt hinter dem Pfosten und der halb geöffneten Tür meines Spints, deswegen sieht sie mich nicht. Ich schätze sie auf Anfang 50, als sie aus dem Duschbereich kommt und vor den Spiegeln, die auf dem Weg zu den Schränken hängen, stehen bleibt. Sie ist nackt, ihr Handtuch über die schmale Schulter geworfen. Was meinen Blick haften lässt, ist ihre verbissene Miene und ihre wiederholten Drehungen vor dem Spiegel. Sie wähnt sich allein, flucht leise und zieht den schlanken Bauch, der eine Mulde zwischen ihren Beckenknochen statt einer Wölbung formt, weiter ein. Betrachtet sich. Ist es immer so, egal in welchem Alter und egal mit welcher Figur? Dieses Diktat der Schlankheit und der straffen Haut, dem Frau nicht entkommt. Du kannst dich abgrenzen, dich versuchen davon frei zu machen, es kritisieren und manchmal auch vergessen, aber kommt man davon ganz los? Gern würde ich dies über mich behaupten. Wie eine Trophäe der Emanzipation. Manchmal ist es auch so, aber dann holt es mich ein. Ich habe in der Schwangerschaft 40kg zugenommen. Das ist nicht normal, zumindest steht das überall im Internet. Was soll das heißen, normal? Gesund? Ich war gesund, keine Schwangerschaftsdiabetes oder so, Kira bei der Geburt ein top fittes 4kg Kind. Groß, ja, schwer, auch. So schwer, dass die Gynäkologin bei der Aufnahme ins Krankenhaus vor der Geburt meinte mir sagen zu müssen, dass sie mir ja keine Angst machen wolle, aber dass es bestimmt nicht so einfach werden würde den dort raus zu kriegen. Nice one. Ist es normal, wenn Frau eine Minikugel auf Stelzenbeinen bis im letzten Drittel der Schwangerschaft vor sich her schiebt und drei Monate nach der Geburt wieder beim Ausgangsgewicht ist? Und ist normal gut? Gut ist, wenn du dich wohl fühlst. Aber das ist so verzwickt. Denn ich fühle mich natürlich wohl, wenn ich Komplimente bekomme (zumindest wenn sie nicht schleimig sind) und wenn ich dem internalisierten Ideal entspreche. Aber ist das gut? Ich weiß nur so viel, dass ich mich furchtbar schwer und behäbig fühlte am Ende der Schwangerschaft, wie ein Wal. Gestrandet auf Land. Aber ich mochte die Wölbung meines Bauches und die meiner nunmehr riesigen Brüste, eine Komposition von Rundungen und prallem Leben. Was ich nicht mochte, war die Unbeweglichkeit, die Müdigkeit und der säulenartige Umfang meiner Oberschenkel. Meine Füße so prall, dass ich die Riemen meiner Sandalen drei Löcher weiter stellen musste. Müde nach 20min Spazieren gehen. Jede Sitzposition unbequem. Dass ich jetzt darüber nachdenke, liegt daran, dass ich mich jetzt, nach fast anderthalb Jahren nach der Geburt, in meinem Körper wieder wohl fühle. Aber der Körper ist anders. Es gibt den Vorschwangerschaftskörper und den Nachschwangerschaftskörper, da muss ich mir nichts vormachen. Der Vorschwangerschaftskörper hatte feste kleine Brüste, die sich ohne BH hübsch unter meinem T-Shirt abzeichneten. Mit straffer Haut, die von der Spannkraft her wie die Haut eines hart gekochten Eies war. Zumindest ein bisschen. Ok, ich gebe zu, ich mochte meine Brüste. Sehr. Eva, die Freundin von Ina mag zum Beispiel ihre Füße. Sie betrachtet sie liebevoll und sagt: „Kuck mal, wie hübsch sie sind.“. So war ich mit meinen Brüsten. Jetzt erinnert der sensorische Reiz, wenn man über die Haut streicht eher an Pergament, zumindest an der Unterseite der Brüste. Zuviel Haut für zu wenig Inhalt. Aber vielleicht sollte nicht nur über vorher und nachher, sondern auch über das Währenddessen geschrieben werden, wenn schon einmal dabei. Und die verschiedenen Phasen des Währenddessen. Denn allein bei der Brust gibt es verschiedene Phasen. Die harte und schmerzend wachsende Brust am Anfang der Schwangerschaft. Zu schnell in zu kurzer Zeit. Die noch härtere und so schmerzende Brust, dass ich dachte, die Schmerzen am Anfang der Schwangerschaft waren eher ein Ziehen. Das war beim Milcheinschuss, also nach der Geburt, als durch den Hormoncocktail und Kiras Saugen nach drei Tagen die Milchbildung in Gang kam. Direkt nach der Geburt kommt ja nur komisches Zeug aus der Brust, die Vormilch. Der Magen vom Baby noch klein wie eine Erbse, kann sowieso noch nicht so viel aufnehmen. Dann die tropfende Brust, wenn die Milch da ist, im Überfluss, im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn du immer nass bist, Flecken überall, Babykotze, Babypisse, möglicherweise noch Wochenbettfluss (Blutungen) und dann diese Milchlecks, die Flecken über den Nippeln, die im Übrigen rot und wund sind. Dann später der Versuch langsam abzustillen und die Brust mit Milch gestaut, hart wie Stein, heiß und fiebrig und wieder so schmerzhaft. Heiße Dusche, Milch mit den Händen raus streichen, bis gelblich schleimige Flüssigkeit zäh aus einzelnen Milchdrüsen kommt, Eiter? Ich weiß es bis heute nicht. Weißkohlblätter aus dem Kühlschrank stampfen und auflegen, im Kreis um den Nippel. Über Nacht drauflassen und morgens dieser angenehme Geruch nach zwiebeligem Kohl, leicht erwärmt von der entzündeten Hitze der Brust. Deftig und definitiv nicht sexy, außer für jemanden mit einem ausgeprägten Sauerkraut Fetisch. Es soll ja alles geben. Milchstau kann man an allen Stellen in der Brust bekommen und je nach Stelle sollte das Kind (falls noch nicht komplett abgestillt) so trinken, dass der Stau am besten abfließen kann. Dies führt zu allen möglichen akrobatischen Versuchen zu stillen. Eine Freundin erzählte, dass sie auf allen Vieren Stillen sollte, das Kind unter sich platziert: „Da studierst du jahrelang, schreibst deine Dissertation und dann stehst du da wie eine Milchkuh. Ich hatte direkt Lust zu kotzen, aber ohne Wiederkäuen!“. Wenn du dann abgestillt hast, hast du das, was sich am ehesten als leerer schrumpeliger Luftballon bezeichnen lässt. Die Luft ist raus, die Milch auch und sonst auch alles irgendwie. Nach einigen Monaten lagert sich wieder Fett im Gewebe ein und sie werden wieder etwas praller. Ina sagt mir, sie fände meine Brüste immer noch toll, größer als früher, weniger straff, aber immer noch schön. Ich glaube es stimmt. Aber vorher war ich in sie verliebt, nun gewöhne ich mich an sie. „Das Leben ist passiert, Schatzi!“ lacht Ina und küsst mich mit einem Schmatz halb auf die Backe, halb auf den Mund.

 

 

 

 

 

 

 

Jahrestage

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Es ist die Zeit, wenn die Lindenblätter zu fallen beginnen. Nicht wie der Ginko, der sich plötzlich gelb färbt und dann in einer Nacht, möglicherweise mit dem ersten Frost, das wäre jedenfalls meine wilde Laienspekulation, alle Blätter gleichzeitig abwirft. Die Blätter der Linden an den Straßenrändern fallen nach und nach. Gelb die, die fallen. Die schwerfällig späte Oktobermorgensonne hebt sich nur langsam aus den Tiefen der herbstlichen Nacht und steht noch tief, als ich von der Kita mit leerem Kindersitz nach Hause fahre. Das Licht ist hell und blendet mich. Es bringt die matschige Spur aus feuchten Blättern auf dem Fahrradweg zum gleißenden Leuchten. Was ist das mit Jahrestagen? Zu wissen, dass an dem Tag vor einem Jahr: erste Anzeichen, leichte Wortverwirrungen. Dann der Krankheitsbeginn, plötzliche Übelkeit, Apathie, Verwirrtheit. Nach einer Woche die Krankenhauseinlieferung, das CT. Dieser schreckliche Anruf abends: Gehirntumor. Die OP, heute vor einem Jahr dann die genaue Diagnose: Glioblastom. WTF. Ich wusste nichts über die WHO Skala der Tumore, Gehirntumor Grad IV, Glio-was? Heute kennt sogar das Rechtschreibprogramm meines Handys die Wörter: Krankenhaus, Gehirntumor, Friedhof und viele mehr. Sie werden mir vorgeschlagen, wann immer ich eine Nachricht tippe in der annähernd ähnlich beginnende Worte vorkommen. Es kam so plötzlich wie der Ginko seine Blätter abwirft und ich fiel, wir fielen. Alle gleichzeitig. Zu wissen wo man war, wie man war, Geräusche, Gerüche, Szenen. Wo man jetzt ist, wie es jetzt ist. Die Veranschaulichung der Zeit. Manche Menschen haben das mit Geburtstagen. Ich mochte meinen Geburtstag eigentlich immer ganz gern. Möglicherweise ist es das Bedeutungsschwangere an diesen Tagen und das Resümieren, was Angst macht. Ich mag Bedeutung. An den Jahrestagen ist es das Erinnern, aber oft nicht genau an ihnen, sondern einen Tag früher oder später oder eine ganze Woche lang. Ich versuche gut zu planen, aber ich kann es nicht kontrollieren. Es bricht doch irgendwie plötzlich über mich herein. Der Sommer war gut, denn der Sommer war ohne Jahrestage. Jetzt kommen sie dafür wie Perlen an einer Gebetskette. Ich nehme jede vorsichtig in die Hand und streiche sie mit dem Daumen weg, auf die andere Seite. Kein Ave Maria. Kein Vater Unser, literally. Wenn man nur vorher wüsste, wie es dann ist, wenn sie da sind. Ich weiß immer vorher, dass es nicht leicht wird. Aber was heißt das? Mein Kopf sagt mir im Vorfeld, „Gib Acht!“, „Übernimm dich nicht, vielleicht brichst du zusammen“. Aber wann kommt er der Zusammenbruch? Wenn man das planen könnte. Ich habe versucht der engsten Aneinanderreihung der Jahrestage, da wo die Perlen besonders dicht gereiht sind, zu begegnen, indem ich nicht zuhause bin. An einem anderen Ort, nicht am Ort des Geschehens und nicht allein. Nicht allein mit Kind. Also war ich am Meer. Mit Freunden. Das Meer war glitzernd und schön, das Gras auf den Dünen silbrig leuchtend und ich, so wütend. Die ersten Tage war meine Wut wie eine Schlange, die sich tief in meinem Bauch wand und fauchend spie, wann immer es Gelegenheit gab. Die Schwäche der Anderen als Gelegenheit. Wenn sie langsam waren, müde oder kränklich. Die Wut auf die Nächsten. Die Wut, die sich nicht am Kind entladen darf, faucht den Freunden schnippisch ins Gesicht. „Wann brechen wir auf?“, „Kann ich noch ne viertel Stunde haben? Ich will noch mein Brot aufessen.“, „Wenn es unbedingt sein muss!“ antwortete ich, aber nicht ironisch, sondern mit trockener beißender Kälte. Das als Ironie zu nehmen und nicht als kränkenden Zynismus hätte mich vielleicht befreit, mir den Spiegel vorgehalten und mir dabei gezeigt, dass ich nicht alles darf, aber dass ich ausgehalten werde mit der Wut. Die Schlange, die sich gleichzeitig um meine Trauer schlang, sie unten fest hielt und nicht hoch kommen ließ. Sie ließ los und löste sich in Schmerz auf, als ich am fünften Tag Joggen war. Eine Stunde im Wald, rennen, spüren. Am Ende Dehnen an einem umgestürzten Baum. Die Anspannung weg, das Gesicht zum Himmel in die, sich im Blätterwerk brechenden Strahlen gereckt. Ich blickte ins dunkle Grün des Märchenwaldes, schweißnass, der Atem schnell, so lebendig, so frei. Dann weinte ich und konnte nicht aufhören bis zum Abend. Alles tat weh, der Kopf, der Rücken, Übelkeit. Irgendwann fragte ich, ob man keine Tränen mehr habe, wenn man nur genug weine und jemand sagte mir mit einem Lächeln, dass der Körper zu 90% aus Wasser bestehe, ich also wahrscheinlich noch einen Weile weitermachen könne. Das war vor einer Woche. Heute wird es genauso, oder so ähnlich. Ich weiß es, denn die Sonne sticht mir in die Augen, der Schmerz flammt auf und ich sehe mich, wie ich nach dem Arztgespräch die Station verlasse, das schreiende Kind aus dem Arm meiner Freundin Claire, die im Warteraum neben den Aufzügen steht, nehme und es auf einem der Plastikklappstühle unter dem Neonlicht stille. „Unheilbar…eine Frage von Wochen bis maximal Jahren“ hallt es in meinem Kopf nach.

Magen-Darm und Regen

Manchmal ist eine erstaunliche Schicksalsergebenheit den kleinen Unglücken und Missgeschicken gegenüber die Folge krasser Lebensereignisse. Und dann kommen sie wieder, die schönen kleinen Dinge, die sich ergeben, weil man weitermacht, den Tag nimmt, wie er anfängt und ihn dann irgendwie gut enden lässt. Es zulässt, dass etwas gut werden kann. Ich komme seit Tagen nicht zum Schreiben. Ein krankes Kind wirft einen sofort zurück in Vorkitazeiten. Ich sitze hier, er schläft, meine Freundin Claire ist grade losgegangen. Wann fing es an? Letzte Woche, rückblickend am letzten sonnigen Tag, meine Laune hatte sich gerade langsam wieder verbessert. Mit meiner Freundin Salome und ihrem Kind auf dem Spielplatz. Wir treffen uns fast immer irgendwo in der Mitte, also zwischen Friedrichshain und Neukölln, diesmal Kreuzberg. Ich war also für meinen alltäglichen Radius quasi maximal weit weg von zuhause. Kira kam gut gelaunt aus der Kita, dann ziemlich still im Wagen. Ich lag mit ihm auf der großen Korbschaukel, er auf meinem Bauch, ich lachte und schaute in die, zwischen den Blättern über mir durchblitzenden Sonnenstrahlen. In diesem Moment kotzte Kira mich direkt an, ins Gesicht, auf den Pulli, bis runter auf die Schuhe. Er heulte. Wohin mit ihm? Erster Impuls, ihn zu mir gewandt auf den Arm nehmen. Zweiter Impuls, ausgelöst vom Gedanken der mir durch den Kopf schoß „Verdammt, er kotzt weiter“, von mir weg halten. Mit Babyfeuchttüchern zumindest die Stückchen entfernt, nach Hause. Das war vor 5 Tagen. Dann ging es ihm wieder besser, wenig Appetit, aber gut gelaunt. Dann kam der Durchfall, gestern, die ganze Nacht. Windeln wechseln, 6 Mal, vielleicht auch mehr. Schlaftrunkenheit verringert meine Merk- und Zählfähigkeit. Gut ausgerüstet, nach dem Kotzen von letzter Woche, hatte ich eine Packung Windeln, Feuchttücher, Handtücher und genug Tee-Hafermilchmischung zum Fläschchen nachfüllen neben dem Bett. Irgendwann in der Nacht, es war nicht das erste Wickeln, erwachte ich wieder von Kiras weinendem Schreien. Er lag neben mir, brüllte mir ins Ohr, dann der Pups und der feuchte Ton, der mich wissen ließ, dass die nächste Wickelaktion nötig war. Diese Hoffnung bei jedem Erwachen, dass er einfach nur trocken pupsen könnte, oder sich einfach nur so auf die andere Seite drehen und ich zurück in den Schlaf sinken könnte. Ich habe es aufgegeben einen kranken Kira in sein Bett legen zu wollen und wir teilten uns mein Bett. Groß genug für uns beide ist es, solange Kira sich nicht wie ein Uhrzeiger kreiselt. Manchmal ist er auch aufdringlich und robbt mir nach, sobald ich etwas Abstand nehme, sodass ich irgendwann aufwache, direkt an der Bettkante, er neben mir und hinter ihm mehr als die Hälfte des Bettes frei. Süß ist er ja, wenn er seinen kleinen Arm um meinen Hals schlingt und sich nah an mich drückt. Aber so kann ich nicht die ganze Nacht schlafen. Ich wusste also: wieder ausziehen, Windel ab, aufpassen, dass im Halbdunkel des Zimmer nicht alles vollgeschmiert wird. Kira lag in seinem Schlafsack, selber im Halbschlaf, froh, unten rum nackig zu sein und ich bückte mich, um mir neben dem Bett eine neue Windel zu angeln. Diese Sekunde reichte ihm, um den nächsten Schwall übelriechender brauner Flüssigkeit abzugeben. Diesmal in den Schlafsack. Leise fluchend schälte ich ihn aus den Klamotten und dem Schlafsack. Ich rannte ins Bad, den Schlafsack in die Badewanne geworfen, schnell zurück zum nackt und heulend im Bett sitzenden Kind, dass in der Zwischenzeit eine Pfütze in die Mitte des Bettes gepinkelt hatte. „Was auch sonst“, dachte ich und breitete die Handtücher auf der Lache aus. Kira angezogen, an mich geschmiegt, weitergeschlafen. Die nächste Runde startete ich mit der Windel bereits in der Hand, bevor ich die alte ab machte. Man lernt nie aus. Am nächsten Morgen: er top fit, ich in einem katerähnlichen Zustand. Mutterkater. Das innere Ringen, ob ein munteres Kind, dass an der Wohnungstür steht und heult, weil es augenscheinlich raus will, in die Kita gebracht werden darf, obwohl es nachts Durchfall hatte, gewann der Teufel auf meiner Schulter. Meine Freundin Claire, eine der wenigen auch mit Kind in meinem engsten Umfeld, stieß vorhin, als sie kurz vorbei kam, eine Art erstaunt-entrüstetes Lachen aus: „Du Schrecken aller anderen Eltern.“. An Ansteckungsgefahr für andere habe ich irgendwie nicht gedacht. Nett. Meine Logik war: Die Kita sagt es geht ein Magen-Darm-Virus rum, ergo hat er es aus der Kita, ergo bringe ich ihn in die Kita, da haben es ja eh schon alle und versuche nach meiner beschissenen Nacht klarzukommen. Die Angst, die Kita könnte ihn nicht annehmen, muss ich aber gehabt haben, denn als ich mit ihm in der Garderobe stand, hörte ich mich nur erzählen, er habe Durchfall gehabt, GESTERN. Nicht die ganze Nacht. Claire hat Recht. Und Mutter Rabe flog nach Hause um sich hinzulegen. Aber zuhause wurde leider nichts besser. Festzustellen, dass man die Steuererklärung machen muss, da die Frist bereits seit drei Tagen abgelaufen ist, ist allein schon genug um schlechte Laune zu bekommen. Ich stellte beim Öffnen eines vor Wochen angekommenen Briefes fest, dass ich mir eingebildet hatte, die Steuer hätte mich um die Erklärung herumkommen lassen. Der Brief mit der Aufforderung eine Steuererklärung zu machen, kollidierte mit meiner Überzeugung, auf die ich gekommen war, weil ich vor Monaten einen Brief mit einem Steuerbescheid bekommen hatte, in dem ich überflog, dass ich Geld zurück bekommen würde. Mein Kopf legte es sich als Kulanz des Finanzamtes (!!WTF!!) zurecht. Natürlich alles Quatsch. Der Brief mit dem Steuerbescheid, war der Bescheid meiner Nachbarin, der anscheinend fälschlicherweise bei mir eingeworfen worden war. Ich hatte einfach drei Monate lang nicht den falschen Namen auf dem Brief bemerkt. Das passiert, wenn man sich den ganzen Sommer über nicht mit Papierkram beschäftigt und Scheuklappen aufsetzt. Ich weiß schon warum, denn als ich anfing die Unterlagen für meine Steuererklärung zu suchen, saß ich irgendwann zwischen einem Haufen offener Leitzordner auf dem Boden, Papierstapel überall und heulte. Überall zwischen den Ordnern oder vorne lose reingelegt, statt abgeheftet, fielen mir die Dokumente der Erinnerung an das letzte Jahr in die Hände. Elterngeldbescheid, Visitenkarte des Pflegestützpunktes, Infoflyer ‚Wenn Eltern Krebs haben‘, Schwerbehindertenantragsbescheid, Taxiquittung von der Fahrt zur Bestrahlung, Hospizliste, Arztbrief, Lageplan Friedhof. Ich habe einen Ordner, ‚Johannes“ steht drauf, sonst nichts, er ist voll, aber anscheinend hatte ich bisher nicht alles abgeheftet. Dann fiel mir ein Foto in die Hände, 2013, Ina, Johannes und ich, alle im Partnerlook. Gestreifte Shirts, lachend auf dem Balkon, fröhlich, hingerissen von der 3-er Sommerverknalltheit, die wir damals hatten. Das Foto in der Hand saß ich noch kurz auf dem Boden. Dann an den PC, Elster Steuerprogramm an, ich gab alles ein, was ich finden konnte, drückte den ‚Übermitteln‘ Button, fertig. Ich bin mir sicher sie kommt zurück, so neben mir stehend kann nicht alles korrekt sein, was ich da eingegeben habe. Ich packte meine Sachen, kurz runter in die WG, dann weiter, mit Jan treffen. Im Treppenhaus ruft die KiTa an, „Sie müssen Kira abholen. Er hat immer noch Durchfall.“. Wut, schlechtes Gewissen, ich warf die Tür laut ins Schloss. Jan kam mit Kira abholen, verkündete schlecht gelaunt zu sein und grinste mich dabei an. Als ich grimmig von meinem bisherigen Tag erzählte, lachte er, „ich fühl mich direkt besser.“. Ich lächelte. Als ich fragte, warum er schlecht gelaunt sei, verkündete er eigentlich keinen Grund zu haben. Daraufhin erwiderte ich, bei mir sei es eben umgedreht, ich sei gestern gut gelaunt gewesen und hätte keinen Grund gehabt. Blickwechsel, Lachen. Es fing an zu regnen, wie immer seit Tagen. Ich grinste, denn meine Gummistiefel erlaubten mir durch die tiefen Pfützen auf dem Gehweg zu stampfen. „Deswegen hast du den Weg ausgesucht.“, ich grinste weiter. Mit Kira, der gut gelaunt, wenn auch etwas müde wirkte, zurück Richtung nach Hause, Essen suchen. Ich hatte schon wieder keinen Appetit, wie immer seit Tagen. Die Frage danach, was ich essen wolle, gab ich zurück mit einem: Sag mir, was du am allerliebsten Essen wollen würdest, wenn du es dir aussuchen könntest, egal was. Dies ergab Burger. Es regnete mittlerweile stärker, Kira freute sich im Kinderwagen über die dicken Tropfen auf seiner Plastikregenabdeckung. Der gute Burgerladen, zu dem wir nach 15min Regenspaziergang kamen, hatte geschlossen. Was auch sonst. Unter der Markise, die Bänke draußen trocken, aber der Laden zu. Offen ab 17h. Es war 15h. Wir standen da, vor uns ergoss sich von der Markise ein Vorhang dichter Tropfen, Regenjacke an Regenjacke. „Ich bestell jetzt Essen“ sagte ich. „Wohin?“, „Hierher“. Die Idee Essen beim weniger guten, aber geöffneten Burgerladen zu bestellen und dieses zum guten, aber geschlossenen Burgerladen liefern zu lassen, es hier unter der Markise zu essen, war so einleuchtend, perfekt. Als die Bestellapp auf meinem Handy Lieferzeit ca. 30min anzeigte und die nasse Kälte uns langsam die feuchten, weil von den Regenjacken nur unzureichend geschützten Beine hochkroch, überlegten wir es uns doch anders und als ich auf ‚Bestellung abschicken‘ drückte, war meine übliche Adresse das Ziel der Lieferung. Dennoch, die guten Dinge müssen nicht perfekt sein. Nur gut.

Halbzeit mit Leichenwagen

Wenn du jemanden verlierst, gibt es Sätze die sich wiederholen, die unterschiedliche Personen, in unterschiedlicher Formulierung und Intonation sagen. Sie sagen: „Das erste Jahr ist das Schlimmste, es heißt nicht umsonst Trauerjahr.“. Ari sitzt in meinem Wohnzimmer auf dem großen quietschpinken Gummiesel von Kira, den Jan und ich in einem spontanen Shoppinganfall à la: „Oh, kuck mal, das braucht Kira, oder?!“, „Ja, lass kaufen“ beim Vorbeigehen an einem der vielen Ramschläden hier im Kiez gekauft haben. Der Esel ist so groß, dass Kira wenn er steht genau die langen Gummiohren annagen kann. 100% Weichmacher garantiert. Großartiges Kinderprodukt. Ari sitzt trotzdem auf dem Esel und sieht dabei etwas besessen aus. Das rührt von der fatalen Mischung her, innerhalb von einer Woche eine Hausarbeit schreiben zu müssen (warum der Stress ist eine andere Geschichte) und zum zweiten Mal dieses Jahr Zeug_in gewesen zu sein, als eine Leiche durchs Treppenhaus transportiert wurde. Also meiner Meinung nach, rührt die Besessenheit daher. Ari fragt sich noch, warum die Laune so komisch ist. Ich unterbreite Ari meine Theorie, die meiner Meinung nach Fakt ist. „Das ist irgendwie nicht normal, oder? Warum ist das so? Warum sieht man nicht öfter Leichenwägen vor Häusern, und Träger mit einer verschlossenen Bahre in Treppenhäusern? Ich seh nie welche sonst, und du?“ sagt Ari und wippt auf dem Esel, der unter dem Gewicht einer erwachsenen Person seine Beine spreizt und seinen Bauch auf den Boden drückt. Ich liege auf dem Podest Bett, das mein Sofa ist und denke daran, dass mein Wohnzimmer noch vor kurzem Johannes Zimmer hieß. Ein paar Monate lang hab ich es immer „Johannes altes Zimmer“ genannt, aber vor kurzem bin ich dazu übergegangen, es mein Wohnzimmer zu nennen. Denn das ist es jetzt. „Ja, ich seh auch nie sonst sowas. Vielleicht stirbt man heute nicht so oft zuhause? Eher im Krankenhaus, oder im Altenheim? Oder im Straßenverkehr.“. Ich überlege, dass Johannes Bett weg ist und auch manches anders stand und was ich schon verändert habe in dem Zimmer, was noch ist wie es war und ob es eine Mischung aus Vergangenem und Neuanfang ist, die sich für mich gut anfühlt. Denn es gibt keine Regel, keinen Ablaufplan. Ab wann verändert man das Zimmer eines Toten, ab wann ist es nicht mehr das Zimmer des Toten, ab wann sortiert man aus, schmeißt sogar Dinge weg? Für mich war klar, ich will kein Museum, keine konservierte Zone eines Lebens, dass vergangen ist. Aber ich will auch in der Wohnung bleiben. Möglicherweise gibt es Menschen, die dann weg wollen, weg von dem Ort, weg von dem Schauplatz. Ich nehme den Schauplatz und verändere die Kulisse. Ich habe mal von jemandem gehört, der das Zimmer der toten Frau 20 Jahre lang unangetastet lies, nur um eine Art Schrein ergänzt. Das kann man auch machen, aber dann lebt man in einem Museum. Ich will weiterleben, mein Leben neu gestalten, ohne die Vergangenheit abzuschneiden, aber auch nicht im Schatten dieser. Erlebnisse integrieren. Was heißt das? In einem meiner schlauen Bücher steht sowas in der Art, dass wenn man den Tod und damit auch die eigene Vergänglichkeit, vielleicht nicht akzeptiert, aber doch hinnimmt ohne vor Schreck zu erbleichen, dann wird der Tod zu einem Thema des Lebens. Den Umgang mit dem Tod leben, erlebbar machen, nicht abscheiden und in eine dunkle Ecke verbannen. Aber wie geht das, wenn nirgends gestorben wird. Keine Leichenwägen, nirgends. Es gibt keine Normalität mit dem Tod, keine Integration in unseren Alltag, in unser Leben. Das müssen die machen für sich, die damit konkret konfrontiert sind. Wie wir jetzt. Ari wollte wohl gerade aufbrechen, um zu mir zu fahren, stand direkt vor der Wohnungstür, als das Weinen laut durch die Tür drang. „Ich wusste sofort, dass sind Lavina und ihre Mutter, meine Nachbarin, der ihr Bruder schon seit Jahren krank war und zuhause mit ihr und ihrer Mutter lebte. Ich wusste er ist tot, sofort, kein Zweifel.“. „Wie, du hast gar nicht gekuckt?“, frage ich. „Nein, es war klar. Ich hatte glaub ich schon die Hand an der Türklinke, aber ich hab losgelassen und da gestanden und konnte mich nicht rühren. Ich konnte da nicht raus, wollte nicht, aber ich wusste es.“, Ari atmet tief durch. Der Sound der Trauer, den wir kennen. „Dann bin ich in die Küche und hab meinen Mitbewohnis, die grade da waren gesagt: er ist tot und sie tragen grade seine Leiche raus.“. „Hä, aber wie konntest du es denn so sicher wissen?“, unterbreche ich. „Naja, dann bin ich ans Fenster und unten stand ein Leichenwagen, aber es war mir schon vorher klar. Die Geräusche die Lavina gemacht hat und ich wusste ja, dass er krank ist“. Anscheinend ist es so, dass wir 6 Monate nach dem Tod von Johannes nur ein Weinen durch eine Tür zu hören brauchen, um zu wissen was los ist. Als wäre alles noch ganz nah. Halbzeit.

3

Es sind drei. Sie stehen an der Ecke meines Hauses und unterhalten sich laut im morgendlichen Nieselregen. Zwei haben einen Kinderwagen dabei, der eine leer, der andere noch mit Babyschale und den Blicken der Frauen nach zu urteilen, liegt in dem ein Kind. Die zwei jüngeren Frauen, beide wahrscheinlich Mitte 20, umrahmen die ältere. Alle sind bleich wie vergilbte Laken. Fahlblondes Haar die beiden Jüngeren, die Ältere eine rot gefärbte Kurzhaarfrisur mit breitem grauen Ansatz. Eine der beiden Jüngeren streicht sich nervös eine Strähne ihres dünnen Haares aus dem Gesicht. Beide Jüngere haben fettige Haare. „Wie ich.“, denke ich. Auch Mütter eben, aber da hört die Ähnlichkeit auf. Wir sind einander Fremde, wohnen womöglich im gleichen Block, aber in getrennten Welten. Die Festlegung der Klassenzugehörigkeit ist wie Geschlechtszuordnung, sie geschieht in den ersten Bruchteilen von Sekunden. Diese tief verankerten Kategorien, mit denen unser Unbewusstes die Welt ordnet und Differenzen schafft. Das sitzt so tief, dass es natürlich anmutet. Nicht bewusst und deswegen vom Gefühl her richtig, wahr, echt. Mit dem ersten Seitenblick beim Heraustreten aus meiner Haustür habe ich erfasst, dass diese drei und ich nicht zusammen gehören. Andere Box. Deckel zu. Die Minuten, die ich brauche um Kira in den Fahrradsitz zu stopfen und ihm all das anzuziehen, wogegen er sich in der Wohnung oben lautstark gewehrt hat, weil er unbedingt sofort raus wollte, höre ich dem Gespräch der drei zu. Voyeuristisch neugierig. Ich bin kein Engel. Das ist es mit den Vorurteilen, wir hören zu, aber mit einem Filter auf dem Ohr. Ein Trichter, der aussiebt, was es zur Aufrechterhaltung, dessen was uns sichert, braucht. Was ich höre ist der Vergleich verschiedener Kinderwägen. Dann wie beiläufig, den Übergang verpasse ich, weil ich versuche Kira die Schuhe anzuziehen, beginnen sie sich über ihr Leben auszutauschen. Es sind alles Alleinerziehende und die Ältere ist eine Art Rat Gebende, deren Kinder schon aus dem Haus sind, die weiß. Weiß wie es läuft, die sich mit Kinderwägen auskennt, weil ihre Älteste bereits eigene Kinder hat und sie ihre Enkel dreimal die Woche nachmittags betreut. Die Frage muss wohl gewesen sein, ob das Kind im Wagen noch gestillt wird, denn die mit der Haarsträhne verneint. Sie berichtet von der Zwickmühle eine Abschlussprüfung machen zu müssen, als das Baby 4 Monate alt war und der Notwendigkeit es eine Weile 8h pro Tag abzugeben. „Da konnte ich nicht stillen. Eigentlich hätte ich schon noch gewollt.“, entschuldigt sie sich. Sie erzählt von dem Versuch ihres Exfreundes sie zur Abtreibung zu zwingen. „Meiner war weg, als die Kleine 9 Monate war.“, wirft nun die Jüngere mit dem leeren Kinderwagen ein, „Sagte, er liebe mich nicht mehr.“. Plötzlich weiß ich nicht mehr wer wohin gehört, meine Box ist kaputt. Vielleicht sind wir doch in der gleichen Kiste gefangen? Wir drei? Ein Teil in mir sträubt sich, schließlich ist Johannes tot. Als hätten schlechte Entscheidungen diese Beiden dahin gebracht wo sie sind, mich aber das Schicksal. Aber stimmt das? Meine Situation ist schlimm, aber mich umschwirrt das Opfernarrativ. „Die Arme, krasser Schicksalsschlag, ungemein schlimm…“. Jeder hat Verständnis, niemand wertet mich ab. Die geteilte Anerkennung der Beschissenheit der eigenen Situation haben diese Beiden nicht auf ihrer Seite. Sie sind normale alleinerziehende Mütter, wo sich die Väter nicht kümmern. Normal. Ende der Geschichte. Das stinkt zum Himmel, denke ich und dennoch bleibt ein Rest der eigenen Überheblichkeit und auch der Entfremdung. Sie sind nicht durch das gegangen, wo ich das letzte Jahr durch musste. Aber vielleicht sind sie schon immer durch mehr gegangen, als ich je musste. Weniger privilegiert von Anfang an. Wer weiß? Es lässt sich nicht auflösen, mein Knäul widerstreitender Emotionen und verwirrter Gedanken. �

(er)tragen

Manchmal ist Trauer bleierne Müdigkeit, schwer wie Sandsäcke. Ich bin so müde. Ich hole Kira aus der Kita. Was zum Teufel soll ich bloß mit ihm machen? Das sind diese Stunden, die man dann auf Spielplätzen verbringt, diesen komischen Orten, deren Rush Hour um 16h beginnt. Schlau platzierte Eisläden können um diese Uhrzeit Schlangen vorweisen, wie sonst nur Berliner Clubs. Es ist noch nicht 16h, erst 14h. Der Spielplatz ist leer, bis auf einige lärmende Schulkinder. Die ohne Kitaplatz sind jetzt zuhause, die fertig eingewöhnten Kinder noch in der Kita. Nach einer Stunde packe ich Kira und tausche zuhause Fahrrad gegen Kinderwagen. Wir gehen einkaufen, sage ich dem empörten Einjährigen, der wohl erwartet hatte, dass wir in unser Haus gehen, anstatt davor lediglich das Gefährt zu wechseln. Meine Müdigkeit ist auf dem Höhepunkt, da, wo sie in Kopfschmerzen übergeht. Aber einkaufen müssen wir, außerdem weiß ich nicht was ich sonst bis 19h (Babyschlafenszeit) noch alles machen soll. Keine Verabredung heute Nachmittag. Zudem ist mein Kühlschrank nicht gerade sinnvoll bestückt. Dinge, die aufwendig zu kochen sind oder Tupperdosen mit Dingen, die nicht mehr zu genießen sind. Windeln brauche ich auch. Wenn man seit Tagen keinen Appetit hat, fällt es schwer sich spannende Gerichte fürs Kind auszudenken, noch dazu, wenn das Kind spannend jeden Tag neu definiert. Also einkaufen. Mein kleiner Rucksack ist schon voll mit Kiras Kitazeug und allem was man zusätzlich so immer mit sich rumschleppt, Wickeltasche, Snacks, Jacke und irgendwie noch viel mehr. Obwohl ich mittlerweile super effizient im Packen bin, es ist immer viel. Und es wird noch mehr. Im Supermarkt stelle ich fest, dass ich alles brauche was in meinem Korb ist und er ist voll bis oben hin. Da ist auch so eine Sache. Leute ohne Kinder nehmen einen Einkaufswagen, mit Kind im Kinderwagen unmöglich. Also einen Korb. Der Korb ist zu klein für alles, zu schwer mit allem, zu unpraktisch sowieso. Kira meckert. Ich packe einen der Babyobstriegel, die ich gerade in den Korb gepackt habe aus und stecke ihn ihm in die Hand. Ruhe. Kind zufrieden. Also weiter. Das wird niemals alles in meinen Rucksack passen. Möglicherweise habe ich einen Beutel im Rucksack, fällt mir ein. Also alles raus, Beutel suchen, Glück gehabt. Ok, jetzt kann ich wenigstens alles transportieren. Der Weg nach Hause ist nicht das Problem, weil man ja alles im und auf dem Kinderwagen ablegen kann. Aber vor der Haustür dann der Versuch alles gleichzeitig zu tragen. Alle Mütter sind Packesel, denke ich. Wenn, wie ich meine, Sisyphos eine Mutter war, dann war er auch ein Esel. Das sind die Art wirrer Gedankenspiele, die mir durch den Kopf schießen, während ich versuche 12kg Kind, einen Rucksack, eine Tasche und Windeln gleichzeitig in den 3.Stock zu tragen. „Nach müd kommt blöd“, sagt eine meiner besten Freundinnen immer. Ich weiß nicht woher sie diese grandiose Lebensweisheit hat, aber auf mich trifft sie definitiv zu. Ich hasse es zweimal gehen zu müssen, denn das heißt auch zweimal mit Kira, also den 12kg. Weniger wichtige schwere Dinge lasse ich manchmal im Wagen und hoffe, dass die WG sie sieht und die Aufforderung erkennt, sie mir zu bringen. Funktioniert aber heute sicher nicht. Niemand da. Also alles auf einmal. Klappt, bis auf eine zerbeulte Milchpackung, die im zweiten Stock aus der Tasche fällt und einem Kratzer von Kira unter meinem Auge. Er nutzt natürlich die Gelegenheit auf dem Arm zu sein und beide Hände frei zu haben, während ich keine habe, um mit seinem wunderbar sauberen Kita-Spielplatzfinger mit den zu langen Nägeln (mein Fehler) mein Auge zu untersuchen. Dieser Aufstieg in die Wohnung ist prototypisch Mutter. Oben in der Wohnung heult Kira natürlich sofort, als ich ihn auf den Boden setze und beschallt mich wunderbar, während ich versuche schnell alles abzulegen. Der ganze Boden ist voller Spielzeug und neben der Tür stehen drei Mülltüten voll und schwer und stinkend. In den Mülleimern der Wohnung sind auch noch zwei. Mein System die Mülltüten erstmal im Hausflur zwischen zu parken wurde vor einigen Wochen von einer Nachricht auf meiner Mobilbox zunichte gemacht. Herr Horter von der Hausverwaltung sprach mir mit sonorer Stimme ins Ohr, als ich sie abhörte: Bei der heutigen Hausbegehung sei aufgefallen, dass vor meiner Türe vier Mülltüten, drei paar Schuhe und ein Skateboard stehen würden. Er habe größtes Verständnis dafür, wenn man einmal in Hundeglück getreten sei, dass dann ein paar Schuhe vor der Tür stehen würden, aber so gehe es leider bei allem guten Willen nicht. Er bitte mich inständig das wegzuräumen, nicht zu Letzt aus Brandschutzgründen. In seiner korrekten Stimme schwang die Verzweiflung seines inneren Konfliktes mich (er weiß natürlich was bei mir los ist) in meiner Situation rügen zu müssen und dennoch zutiefst im Glauben, dass die Hausordnung unter allen Umständen gewahrt werden muss. Also wieder runter, Kira im Tragesystem, Mülltüten in den Händen, fünf diesmal, schwer vom Gewicht in Windeln gebundener Flüssigkeit und anderen Resten des Lebens. Durch den idyllischen Hinterhof, indem sich Eichhörnchen und Vögel tummeln, schleife ich die Mülltüten hinter mir her und hänge meinen müden Gedanken nach. Irgendwie beruhigend sinnhaft, dass ich heute alles zu schleppen scheine, Sandsäcke, Einkauftüten, Müllsäcke. Und Kira trag ich auch.

Kein Scheißtag

Ich wache mit Wut auf. Sie sitzt tief in meinem Bauch. Es wird nicht besser, als sich von Kira, der neben mir liegt, ein feuchter Fleck ausbreitet. Die Windel ist übergelaufen. Er setzt sich auf, wach und etwas erbost, weil ich ihm schnell die nassen Sachen vom Leib reiße, kaum, dass er die Augen aufgemacht hat. Im Kopf führe ich ein Zwiegespräch und grüble über toxische Männlichkeit, während ich Kira von der dicken, übervoll gepinkelten Windel der Nacht befreie, unten ohne auf dem Teppich in meinem Zimmer spielen lasse und Kaffee aufsetzen gehe. Ich denke nach über die, unsere Gesellschaft definierende männliche Norm, der zu entkommen so schwer ist. Johannes hat nie gut auf sich aufgepasst, immer am Limit dessen was er schaffen konnte, überarbeitet und aufopferungsvoll. Fürsorglich mir gegenüber. Aber gegenüber sich selbst unerbittlich. Es sind auch die scheinbaren Kleinigkeiten. Nicht zum Arzt zu gehen, um Unwohlsein abzuklären. Nie zu genügen, immer leistungsbereit. Irgendwie selbstzerstörerisch. Mit meiner Kaffeetasse sitze ich schließlich ans Sofa gelehnt auf dem Boden und versuche so viel wie nötig und so wenig wie möglich mitzuspielen, bei den frühmorgendlichen, geschäftigen Bemühungen meines Kindes die Welt zu ordnen. Denn das tut er derzeit ständig. Gerade schleppt er Bücher über Bücher an und breitet sie vor sich aus. Immer wieder brabbelt er „Bu“, „Bu“, was meiner Meinung nach Buch heißen soll und „cool“, was der geteilten Meinung aller Personen meines engsten Umfeldes nach cool bedeutet und wohl heißt, dass dieses Wort in meinem Sprachgebrauch sehr häufig vorkommt. Endlich hat er drei Bücher aus dem Haufen geklaubt und er ist begierig mir irgendwas zu zeigen, legt sie nebeneinander und deutet abwechselnd auf verschiedene Figuren. Nach Minuten begreife ich, dass in jedem Buch die gleichen Tierarten vorkommen: Hase, Maulwurf und Igel. Ich bin so stolz. „Oh, du bist so schlau, du Süßer. Wow, was du wieder Neues kannst!“, er lacht. Ich bin voller Liebe. Sofort möchte ich ihn teilen, diesen Moment. Wohl weil mein Innerstes bis tief hinein begriffen zu haben scheint, dass Johannes unwiederbringlich tot ist, kommt mir in solchen Situationen nie der Gedanke, ER solle da sein. Was kommt, ist der Impuls meinem engsten Kreis in unserer Chatgruppe zu schreiben. Eine dieser mir Nahen anzurufen und ein Lächeln im Klang der vertrauten Stimme zu hören. Aber es ist 7h morgens, Samstag und alle schlafen oder teilen ihren Morgen mit jemand anderem. Außerdem kann ich auch nicht ständig alles in diese Gruppe schreiben. Also sitze ich weiter ans Sofa gelehnt und weine ein bisschen. Meine Momente des Selbstmitleides sind sehr begrenzt, aber kurz tue ich mir so leid, dass ich wieder wütend werde. Diesmal auf das Schicksal. Dann begreife ich, dass heute der Todestag ist, also heute vor 6 Monaten habe ich ihn gefunden. Ungefähr um diese Uhrzeit. In diesem Moment entschließt sich Kira in großem Bogen auf den Teppich zu pinkeln. Ich werfe reflexartig seine dreckige Hose von gestern, die neben mir liegt, in den Strahl, in der Hoffnung, dass der Teppich verschont bleibt. Sonst lege ich meist eins der Babyspucktücher neben mich, um genau für solche Aktionen gewappnet zu sein, so muss nun die Hose dran glauben. Der Teppich ist trotzdem nass. Manchmal frage ich mich, ob es einen Ort in der Wohnung gibt, den er noch nicht angepinkelt hat. Das hört sich irgendwie widerlich an, dabei ist meine Wohnung eigentlich ganz schön. Kira betrachtet vergnügt seine etwas feuchten Füße. Ich bin so langsam heute Morgen. Ich will hier sitzen und in Ruhe meinen Kaffee trinken, denken, wütend und traurig sein. „Aber wenigstens hat er nicht auf den Teppich gekackt.“, denke ich, kippe den letzten Schluck Kaffee hinunter und stehe auf.

Der Stein

Mit dem Fahrrad zurück nach Hause. Der morgendlichen Sonne entgegen. Es ist neun Uhr morgens und ich habe Kira wie immer etwas früher als neun in die Kita gebracht. Wahrscheinlich spiegelt sich darin mein ungeduldiger Wunsch ihn abzugeben. Früher, schneller, länger. Zeit für mich. Endlich. Wie ein gierig mit dem Huf scharrendes Pferd stehe ich morgens im Flur und habe meist bereits viel zu früh alles gepackt. Zehn Minuten Leerlaufzeit, in denen ich mal wieder über die Relativität der Zeit staune. Wie können 10Minuten soooo dehnbar sein? Während ich dies schreibe, kann ich den Gedanken nicht abwehren, dass es vielleicht sinnvoll wäre zu erwähnen, dass ich ihn ja durchaus liebe, den Kleinen. Was sagt das aus über unsere Gesellschaft, meine inneren Dämonen der Sozialisation. Frau darf sich ja nicht einfach freuen das Balg loszuwerden. Der beteuernde Nachschub der unbedingten Mutterliebe. Und dies, obwohl in meiner Situation ja sogar die horstigsten der besorgten Horsts einräumen würden, dass es berechtigt ist, sich Zeit für sich zu wünschen. Zeit um zu trauern, versteht sich. Zeit, um so zu trauern, wie die sich Trauer vorstellen. Traurig, immer. Zeit um pfeifend mit dem Fahrrad zu fahren, eher nicht. Das Gesicht in die warmen Sonnenstrahlen gereckt, den kalten Herbstwind um die Ohren, Cat Powers Song Cherokee auf den Lippen und immer wieder die eine Zeile singend: „If l die before my time, bury me upside down“. Wobei das Internet steif und fest behauptet, die Zeile würde lauten: „feels like time is on my time“, mein Kopf versteht und singt ersteres, passt wahrscheinlich besser. Beschwingt sein, wenn man am Tag zuvor den Grabstein des Mannes aufgestellt hat. Gestern: Keine Zeit, keine Kraft zu schreiben. Der Tag so voll. Morgens los, Kira dabei. Ab ins Auto. Mein Freund Jan fährt, meine Schwester Ari hinten bei Kira, ich auf dem Beifahrersitz. Kira freut sich tierisch über den Ausflug, zappelt mit den Füßchen und kreischt immer wieder wie ein kleines Äffchen. Außerdem googelt er. Wir nennen das so. Er reiht das Wort Google aneinander. Ari sagt, Kira sei eben ein Digital Native. Draußen ist es kalt, aber die Sonne scheint dennoch durch die vom Saft der Linden klebrigen und staubigen Autoscheiben. Jan versucht die Frontscheibe mit wiederholten Scheibenwischerflüssigkeitsbesprühungen zumindest soweit sauber zu bekommen, dass wir den Gegenverkehr gefahrlos erkennen können. Ich übertreibe. Aber schlierenfrei wird es nicht, das ist klar. Mir egal, genau mein Stil. Deswegen ist auch die Scheibenwischerflüssigkeit genau in dem Moment leer, als das Ergebnis ausreichend scheint. Johannes, mein toter Partner, wäre sofort zur Tanke gefahren und hätte die Scheibe noch schnell geputzt. Egal wie spät wir dran waren, das hat er immer gemacht, egal wie laut ich protestierte, es sei ja wohl ok so und man könne ja durchaus was sehen und wir könnten das doch später machen, ich wolle jetzt los und nicht zu spät kommen. Er hat das ignoriert. Jetzt ist er tot. Ob wir ihn upside down begraben haben weiß ich nicht, da wir ihn verbrannt haben. Die Urne steht jedenfalls mit dem Deckel nach oben im Grab. Ich muss es wissen, ich habe sie runter gelassen. Die Autofahrt lang spekulieren wir, ob seine Mutter wohl kommt. Sie weiß, dass wir heute den Stein setzen, aber glücklicherweise ist sie nicht in der Stadt. Wir haben es ihr auch recht kurzfristig gesagt. Wir haben es auch recht kurzfristig geplant. Letzte Woche. Das ist die Art der Kompromissbildung, die den Wunsch sie nicht dabei zu haben und das wissende Gewissen, dass sie aber als seine Mutter das Recht hat zu kommen, unter einen Hut bringt. Dinge so zu arrangieren, dass man möglichst verunmöglicht was man fürchtet. Ich will sie nicht sehen, meine Wut auf sie ist so groß, dass ich mich hart zusammen reißen muss nicht zu schreien, wenn ich sie treffe. Ihre Wut auf mich ist Hass, kalter Hass, auch wenn sie dies abstreitet. Wir können nicht zusammen trauern. Diese unnötigen Belastungen, die Familienstreit heißen und die sich wie Lavaeruptionen nach einem großen Seebeben explosiv den Weg an die Oberfläche bahnen und alles verbrennen was noch gut und ganz ist. Vor seinem Tod war das Verhältnis ok, nie eng, nie wirklich warm, aber ich konnte sie anerkennen, in ihren Fähigkeiten, sie anders sein lassen als ich, ohne sie abzuwerten. Aber als ihre mangelnde Anerkennung mir gegenüber zu abstrusen Phantastereien und Anschuldigungen wurde, konnte ich nicht mehr. Meine Grenzziehung führte zum Kontaktabbruch ihrerseits und nun stehen wir hier. Das letzte Event voraussichtlich für eine eine ganze Weile, an dem sie und ich uns über den Weg laufen könnten. Sein Vater, über den nun die Kommunikation läuft, versicherte sie komme nicht. Aber andere Situationen haben mich in den letzten Monaten gelehrt, dass alles zu erwarten ist. So frage ich die anderen Beiden, ob sie denken, dass sie sich womöglich von einem Heli abseilen wird. „Was mache ich wenn sie kommt?“, frage ich. „Atmen“, sagt Ari und noch zwei Sätze, die so sehr nach unserer Mutter klingen, dass ich lachen muss. Familie. Sie steckt einem in Mark und Bein. Im Guten wie im Schlechten. Am Tor zum Friedhof treffen wir den Steinmetz und Johannes Vater, die den Stein gemeinsam her transportiert haben. Ich bin plötzlich aufgeregt, aber freudig, ich habe ihn noch nicht gesehen, den fertigen Stein. Wir haben ihn ausgesucht, ich und Johannes Vater, einen Findling aus dem großen Grundstück im Brandenburger Land auf dem Johannes aufgewachsen ist. Ein alter Bauernhof. Ich mag den Ort. Den magischen verwunschen riesigen Garten, der sich hinter der alten Klinkerscheune und dem pittoresken Bauernhaus erstreckt. Ich mag den satt grünen Farn hinter dem alten Hühnerstall aus Lehm, die Obstbäume, die Tomaten, die an der von der Sonne erwärmten Grundstücksmauer wachsen. Das hätte ihm gefallen. Etwas Altes beleben, etwas Gefundenes nutzen. Ich spähe durch die Scheibe in den Kofferraum, wo der Stein liegt. Er ist wunderschön. Alles steigt in mir hoch. Als wir ihn aus dem Auto wuchten, bricht zunächst die emsige Betriebsamkeit den Bann meiner Aufgewühltheit. Aber als er dann da liegt, hellgrau mit weißen Adern, die kleine Wellen auf die Oberfläche zaubern und ich den Namen und die Daten sehe, die in Jugendstilschrift gemeißelt und mit Blattgold ausgelegt in der Sonne schimmern, kommen sie, die Tränen. Die Lieben, die ich mitgenommen habe, damit sie genau das tun, was sie nun tun, flankieren mich. Von beiden Seiten eine Hand auf der Schulter. Der Schmerz der offenen Wunde lässt mich unter der Berührung erstarren. Ich gehe ein paar Schritte durch den mit lichten Flecken gesprenkelten Waldboden, allein. Den Namen auf einem Stein zu lesen. In Stein gemeißelt die Tatsache, dass er tot ist. Weg, Nichts, nicht mehr. Nicht hier, nirgends. Ich gehe zurück und lächle durch die Tränen. Ein Schritt nach dem anderen.

Not just a date

Ich fliege. Euphorisiert. Die Linden wispern hinter mir im leichten Wind, als ich die Haustür öffne und in die Kühle des Treppenhauses rausche. Ich laufe, springe fast die Treppen zur WG, die in der Wohnung unter meiner wohnt, hoch. Der Staub in der Luft tanzt schimmernd in der Sonne, die steil durch die runden Fenster des Treppenhauses einfällt. Warm. Sommer, Sonne, immer noch. Wie lange noch? Es ist Mitte September und die Tage werden bereits kürzer. Heute ist nochmal Sommer. Ich hab es getan. Ich habe mich in die Sphäre des Online Datings gewagt. Vor stolzer Begeisterung versuche ich die Tür mit dem falschen Schlüssel aufzuschließen. Hoffentlich ist jemand da, ich muss mit den anderen reden, mein Hoch teilen, bevor es verfliegt und die nächste Welle mich in tiefere Sphären spült. Die Küchentür zu meiner linken ist zu, der Flur dunkel, als ich es geschafft habe die Wohnung aufzuschließen und reinkomme. Es ist ruhig, aber das sagt nichts. Was für mich Mittag ist, ist für die hier unten Morgen. An der Tür zur Küche kleben die Sticker der vergangenen 10 Jahre linker Szene in Berlin. Vom Arbeitskampf zum queeren Sternchen, ein kotzendes Einhorn ist auch dabei. Allesamt mittlerweile etwas mit dem klebrigen Staub fettigen Küchenabriebs bedeckt. Andenken. In der Küche sind sie tatsächlich. Mit breitem Grinsen falle ich sie an: „Ich hatte gerade ein Date. Bin grade reingekommen. Oh, ich wollte es euch direkt erzählen, ich bin so stolz! Ich hab es getan.“. „Hui, wie aufregend.“, pfeift Ina und strahlt zurück. Bene sitzt am Tisch, sein enthusiastisches Gesicht ist mein Durchschnittstagsgesicht, aber auch er lacht. „Oha, Erzähl!“. Ich erzähle von Kaffees in der Sonne, dem Wind auf dem Feld und vor allem von meiner Verblüffung über meine eigene Unaufgeregtheit zuvor und auch dann als der besagte Er dann kam. Die Aufregung kommt jetzt, aber es ist keine ängstliche die dir den Magen hochfährt und dir einen Stein in die Kehle legt. Es ist die ausgelassene freudige Erregung über meine eigene Fähigkeit. Die Fähigkeit raus zu gehen, froh zu sein, dem ersten Treffen mit einem Fremden mit angemessener vergnügter Neugier zu begegnen, anstatt sich in die Hosen zu machen. Wenn du ein Kind bekommst sitzt du erstmal meist in deiner kleinen Blase. In meinem Fall war es die rosa Blase ein Wunschkind zur gewünschten Zeit im Leben, mit dem Mann, mit dem ich dies wagen wollte, zu bekommen. Vor allem mit ihm. Nicht allein. Niemals allein. Nicht lief immer alles glatt, aber die kleinen Schwierigkeiten waren die Art von Störungen, die das ausreichend Gute (Winnicott Thank you!!) ausmachen. Dann kam erst die eigentliche Herausforderung, die Überforderung. Die Krankheit, die Pflege, der Tod. Und Kira immer dabei. 3Monate alt zu Beginn. Ich war nie draußen, außerhalb der Blase, deren Hülle nun nicht mehr aus schimmernder Seifenlauge bestand, sondern zum Gefängnis geworden war. Die Situation war das Gefängnis. Auch wenn man mit denen, die man liebt eingesperrt ist, bleibt man dennoch eingesperrt. Und wenn die, die man liebt, ein hungriges Stillkind und ein langsam dem Tod entgegen gehender, immer weniger klarer Mann sind, macht sich der Schmerz der Zerrissenheit breit. Das Gute war, dass ich fleißig Schlüssel zum Gefängnis verteilt hatte und alle kamen. Immer. Auch die beiden, die mir jetzt gegenübersitzen und lächelnd verstehen, warum es nicht einfach nur ein Date war.

kalte Pommes

Gestern gab es den dritten Tag in Folge Pommes und er ist erst etwas mehr als 14Monate alt. Das Alter des eigenen Kindes in Monaten anzugeben ist die Eigenart der Spielplatzeltern. Niemand redet sonst so. Jungeltern in Neukölln und ihre Kücken. Scheinbar bekommt gerade jede eins, oder schon das zweite, was die Kitaplatzsuche für die sogenannten Erstgebärenden schier verunmöglicht. Unseren Platz haben wir dem Zutun von Freunden zu verdanken sowie dem Ausspielen der ultimativen Mitleidskarte: „Witwe 33 sucht Kitaplatz für Halbwaisen“. Aber zurück zu den Pommes. Die liegen in kaltem Fett erstarrt auf Kiras lila Teller mit freundlichem Dachsmotiv, daneben eine angenagte Tomate. Am anderen Ende des Tisches liegt haufenweise Kleingeld. Sollte das herunter fallen und von einem neugierigen Kind gefunden werden, was nichts lieber zu tun scheint, als kleine Brösel vom Boden zu essen, könnte das schnell meine Ängste, bezüglich des qualvollen Todes meines Kindes durch Ersticken, bedrohlich real werden lassen. Aber erstmal ist er ja in der Kita, endlich. Der ganze Tisch sieht aus, als hätten zehn Leute gestern hier gegessen und nicht nur eine Rabenmutter und ihr Kind. Tatsächlich habe ich nicht ganz allein mit Kira gegessen, sondern noch mit einem meiner besten Freunde. Es hört sich allerdings dramatischer und somit spannender an, wenn man schreibt allein und was sollte ein Blog schon anderes sein? Meine Freundin Karina meinte dazu gestern, meine eigentliche Aufgabe hier sollte es sein die Welt nachhaltig davon zu überzeugen, dass Rabenvögel keine schlechten Eltern, genauer Mütter sind. Denn um die Väter geht es ja sowieso nicht. Hashtag Rabenmutter. Möglicherweise ist die Abwesenheit der Väter als fürsorgliche Raben der Ursprung des faschistischen Charakters, grüble ich, während ich die Pommes und alles was sonst noch die Tischplatte verklebt in den Müll werfe. In den Restmüll wohlgemerkt. Ich trenne nur noch Plastik und Rest, ok Altpapier auch, aber keine Biotonne. Die stinkt sofort und ich habe das Gefühl meine Wohnung kann neben dem Geruch nach vollen Windeln, von dem ich denke, dass er latent in der Luft hängt nicht noch den säuerlichen Geruch verwesender Bioabfälle vertragen. Ich frage mich ob meine Gäste oder auch der Lieferandofahrer (der mit den Pommes) oder wer auch immer, ob sie, wenn sie die Wohnung betreten, kurz eine halbe Minute eingewabert werden von diesem Geruch nach Babykacke, ehe die Geruchsnerven fertig gefeuert und sich adaptiert haben. So wie man diese feine Mischung aus Katzenklo und Katzenfutter riecht, wenn man eine Katzenwohnung betritt. Man selbst riecht sich ja auch nicht, vielleicht habe ich deswegen schon den Sinn dafür verloren. Die Phantasie bleibt. Aber ich frage nie nach. So wichtig scheint es dann doch nicht zu sein. Oder eine Verdrängungsleistung. Dafür lüfte ich jetzt erstmal. Alle Fenster auf, in allen Zimmern außer dem einen und der erneute Versuch in einer Eckwohnung einen guten Zug zu erzeugen. Es scheitert wie immer, die Luft kann hier irgendwie nicht gut durch pusten, zirkulieren. Das ist es was man immer macht, jeden Tag oder Abend wenn das Kind weg ist oder schläft, die Wohnung irgendwie wieder in einen nicht klebrigen und nicht stinkigen Zustand zu versetzen. Der ewige Kreislauf. Der Ursisyphos ist, glaube ich, eigentlich eine Mutter. Wobei Pommes wegzuräumen als Strafe den Tod überlistet zu haben, wie Sisyphos in der Sage, nicht zutrifft, wenn man vor sechs Monaten den Partner an den Tod verloren hat. Am Samstag sind es sechs Monate. Nachdem ich letzten Monat begriffen habe, dass ich anscheinend immer um den 21ten einen besonderen Traueranfall bekomme, bin ich gerade etwas gespannt ob der nächsten Tage. Sowieso. Morgen stellen wir den Grabstein auf. Ich nehme die Wäsche ab und hänge direkt die nächste Ladung auf. Die hatte ich direkt nach dem Aufstehen angemacht. Im gute-Mutter Flow, direkt nachdem ich die Espressokanne auf den Herd gestellt hatte. Die latenten Fast-Food-Schuldgefühle direkt durch tatkräftige, perfekt durchorganisierte Haushaltsabläufe gebannt. An besonders erfolgreichen gute-Mutter Tagen räume ich natürlich die Küche abends auf und schmeiße die Dreckwäsche bereits abends in die Waschmaschine, sodass ich morgens schlaftrunken, weil wie immer zu früh wach, mich nur der Aufgaben Kaffee zu kochen und ihn zu trinken stellen und nicht noch Dreckwäsche zusammen sammeln muss, damit Kira nicht bei seinen betrunken anmutenden Gehversuchen ständig in schmutzigen Bodies oder vollgepinkelten Küchentüchern hängen bleibt.

Jetzt, nachdem ich mit dem Schreiben begonnen habe, ist mir etwas mulmig. Was möchte ich hier? Ist es der narzisstisch gefärbte Versuch gegen die eigene Vergänglichkeit zu posten, denn das Internet vergisst nie. Pseudoanonym veräußern was in mir lauert, wühlt, drängt? Was ist tröstlicher daran öffentlich zu schreiben als privat? Der Bezug zu einem schemenhaften Anderen, dem man erzählt. Erzählen um zu überleben. Um durch den Tag zu kommen, um Sinnhaftigkeit im morgendlichen Aufräumen kalter Pommes zu finden?