Tanzapfel

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„Habe ich Sie da jetzt zu sehr draufgestoßen?“, „Nein.“, erwidere ich. „Vielleicht.“, denke ich, auf der analytischen Couch liegend. Aber es ist ok, wozu bin ich sonst hier. In der Wohnung über der Praxis gab es vor Monaten wohl einen Wasserschaden und die bräunlichen Flecken an der Decke über mir passen so gar nicht zur gediegenen Westberliner Altbauwohnung mit langen Fluren und schweren Teppichen. Aber sie bilden lustige Klecksbilder. Man könnte bestimmt darüber reden, wer was in ihnen sieht und das hübsch analytisch deuten. Er fragt wie er war, Johannes. Möchte ihn sich nochmal in Erinnerung rufen, das Bild, das ich ihm über die Jahre gezeichnet habe auffrischen. Ich habe die letzten Monate vor allem das Anstrengende erinnert, was das letzte Jahr war und auch was in unserer Beziehung anstrengend war und es wohl auch weiterhin gewesen wäre, auch wenn Johannes nicht gestorben wäre. „Dann tut es nicht so weh.“, flüstere ich. Wenn ich mich in das flirrende Traumland der ersten drei Lebensmonate von Kira begebe, das Davor, vor dem Krebs, wo die Sonne durch sommerliches Laub funkelt und das Wasser der Brandenburger Seen von unsere Haut perlt, Eis in der Waffel schmilzt und ein nacktes Baby kleine Hitzepickel bekommt, dann flammt der Schmerz auf. Ich erzähle von unseren Streits darum, dass er weniger arbeitet, sich besser abgrenzt. Von Enttäuschungen meinerseits, wenn er Arbeit mit in unser verlängertes Wegfahrwochenende nahm oder grantig und schweigsam auf meine Stimmung drückte, keine Lust auf den verabredeten Spieleabend. Das ist meine Form der Abwehr. Vielleicht ist das zu negativ. Es macht es möglich weiterzumachen. Ein neues Leben. Sehen welche Wege jetzt gangbar werden. Welche Abzweigungen, von denen ich dachte, sie nicht mehr zu gehen, nun doch einzuschlagen. Neugierig. Vielleicht sind auch einige dabei, auf die ich von meiner Bundestraße aus neidvoll schaute und doch irgendwie entschied, dass man nicht alle Pfade gehen kann. Spurhalten. Ich hatte einen Drive und wollte dann auch doch nicht anhalten. Aber wenn die Straße auf der man sich befindet in einer Betonmauer endet, macht das die Entscheidung für die gewundenen Trampelpfade einfacher. Weil, wer will schon an grauem Stahlbeton zerschellen. Gegen die Wand. Ich nicht jedenfalls. Und dann fahre ich nach Hause, mit dem Fahrrad durch den Nieselregen, den November. Meinen neuen Fahrradhelm auf dem Kopf. Seit Monaten brauchte ich einen neuen, aber alle meine Helme hat immer er gekauft, mir mitgebracht und ich konnte mich nicht aufraffen, mich damit zu beschäftigen. Da war er pedantisch, immer mit Helm, nie ohne. Wenn ich die letzten Monate ohne Helm fuhr, stets mit einer Prise Scham, wie ein unartiges Kind. Nachlässig. Gerade mit Kind hat man doch eine Verantwortung für das eigene Leben. Aufzupassen. Trotzig erwiderte ich im inneren Dialog mit ihm: „Der Helm hat dir am Ende auch nichts gebracht!“. Er sagte nichts. Gegen einen Toten hat man immer das letzte Wort. Jetzt habe ich wieder einen Helm. Jan sagt, er sehe aus, als hätte ich ihn schon immer, was glaube ich ein Kompliment sein soll. Ich fahre immer geradeaus, vom bourgoisen Berliner Westen nach Hause in den Tummelkiez für Hipster und Hundehäufchen. Spiele Fangen mit der Person hinter mir, die bei jeder roten Ampel, an der ich halte, von hinten heranschießt, darüber fährt, um dann wieder von mir eingeholt zu werden. Ohrstöpsel in den Ohren. Nichts los sonst hier, der Berufsverkehr ist vorbei und wer hat auch schon Lust im November noch Fahrrad zu fahren. An der Kreuzung Ecke Potsdamer Str. hält sogar die Ohrstöpselfangmichdoch Person bei dunkeloranger Ampel an. Schräg gegenüber leuchten die Äpfel auf der Obstauslage des türkischen Supermarktes rotwangig. Es wird grün und ich fahre weiter. Und dann ganz schnell ist es da und ich tauche ein in das Bild. Ich höre das frische Knacken des Apfels und schmecke den süß-sauren Saft, der meinen trockenen Partymund fruchtig erfrischt. Wir tanzen. Die in neon Farben gemalten Tiere leuchten im Takt der blitzenden weißen Lichter von dunklen Wänden pink, orange, grün. Hinter Säulen im Halbdunkel räkeln sich Gestalten auf abwaschbaren Sofen. Die Nässe ist warm. Schweiß. Nebel. Und noch mehr. Wir tanzen. Ina leuchtet und Johannes strahlt. Wir tanzen. Silbern glitzernde Lider beim Augenaufschlag und ich lache und ihre Küsse vermischen sich mit der Süße des Apfels. Ich fahre weiter unter den Schatten der Yorckbrücken hindurch und salzige Tränen vermischen sich mit dem kalten Nieselregen auf meinem Gesicht. Tanzäpfel, so hat er sie genannt und er hatte immer ein oder zwei dabei. Im Hipbag auf der Tanzfläche im Blank, im KitKat. Wenn alle noch rumstanden tanzte er schon, meine Gehemmtheit übergehend, was mich, mit meinen sozialen Ängsten konfrontiert, manchmal gereizt und grantig werden ließ, aber manchmal auch mitreißen konnte. Ich esse keine Äpfel mehr. Nicht zurzeit. Keinen Eintopf und kein Holunderblütengelee. Aber ich habe wieder einen Helm.

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