Uups, it happend again.

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Schon wieder. Alles sieht aus wie Sau. Auf dem Sofa liegt noch so eine volle Windel, ich werfe sie in den Müll. In der Küche alles durcheinander und die Spülmaschine möchte ausgeräumt und neu eingeräumt werden, mit dem Geschirr, was sich schon überall sammelt. Wenn ich wenigstens schreiben könnte, das sich im Waschbecken stapelt, aber noch nicht mal das, alles steht irgendwo. Also fliehe ich ins Wohnzimmer. Zimmer habe ich genug. Eine 4-Zimmerwohnung für eine Erwachsene und ein Kleinkind. Ich sitze auf dem Sofa, nachdem ich die Windel entsorgt habe, umringt von zwei voll behangenen Wäscheständern. Ich bilde mir ein, die Wäsche sei noch halb nass, ich könne sie also noch nicht abnehmen. Aber Kira schläft und ich habe „frei“, oder so. In meiner DatingApp schreibt mir jemand von hemmungslosem Ausgleich im Privaten und ich frage mich, wie das in mein Leben passt. Mein Leben besteht fast nur aus Privatem, aber ohne Ausgleich derzeit. Das Kind wird sich hoffentlich diese Woche mal wieder richtig auskurieren, nachdem es Ohrenschmerzen und Erkältungen seit Wochen wiederkehrend mit sich herumschleppt. Die Kitaschließzeit der Feiertage ist zu Ende, aber ich musste einsehen, dass er diese Woche noch nicht wieder hingehen kann. Ohne die Hilfe meiner engsten Freunde würde gar nichts gehen. So konnte ich wenigstens zum Sport. Kira anderthalb Stunden mal bei Jan, bei Ari heute und immer wieder die kurzen Pausen unten in der WG mit Bene, die mich über den Tag retten. In den erschöpfenden Stunden bevor Kira ins Bett geht, mal kurz nicht allein mit ihm sein. Bene ist auch krank, das kommt mir zu Gute, denn so ist er zuhause. Ich war gut aufgehoben über Weihnachten, Silvester. Kira zwar angekränkelt, aber es ging alles besser als befürchtet und meine Laune war recht stabil. Das Rezept, ‚Alles anders als sonst‘, ging auf. Mit anderen Menschen und nicht zu Hause über Weihnachten, aber auch nicht wegfahren, nicht zu meiner Mutter, sondern zu Freunden. Nicht abends nach Hause in die leere Wohnung zu müssen. Vor Weihnachten dachte ich die ganze Zeit an Weihnachten, an letztes Jahr, an das Wissen, es würde wahrscheinlich das letzte gemeinsame sein mit Johannes. An die Hoffnung, die ich, sie für trügerisch haltend, versuchte zu ersticken, sie nicht weiter zu hegen versuchte, aber die manchmal aufkam, da es ihm ganz gut zu gehen schien. Ganz gut heißt, er lachte, er konnte spazieren gehen, immer die gleiche Runde, nie zu lang. Ganz gut heißt, er sagte zumindest noch einige Sätze, es war mir nicht klar was er alles verstand, aber es war klar, er verstand noch etwas. Ich wusste nie ob er gut gelaunt war, weil seine psychische Verdrängungsleistung so groß war, oder ob er tatsächlich begriff und aber auch noch Hoffnung hatte und beschlossen hatte, sich an diese zu klammern. Ob ganz gut hieß, dass die depressiven Verstimmungen, die er jahrelang hatte, im Angesicht des Unvorstellbaren, des Furchtbaren, nicht mehr wichtig erschienen, bedeutungslos geworden waren. Endlich frei, nicht mehr leisten müssen. Ich weiß es nicht. Oder begriff er nicht. Wenn einem ein Arzt sagt: „Wir können das nicht heilen. Wir reden hier von Wochen, Monaten, vielleicht ein paar Jahren maximal.“, sagt man dann der Person, die sterben wird: „Verstehst du? Hast du begriffen was das heißt? Das heißt du wirst sterben, und zwar bald.“? Ich habe das nicht gesagt. Hätte ich sollen? Ich weiß es nicht. Wie soll man sich in den Kopf von jemandem versetzen, dessen Kopf nicht mehr so funktioniert wie vorher, und wo niemand genau sagen kann, was genau nicht mehr funktioniert. Vielleicht hatte er manchmal Zugang zu allem und manchmal nicht. Das war jedenfalls mein Eindruck. Wenn er plötzlich vom Arbeiten redete, das er im Sommer wieder wollte. Aber wenn ich weinend davon sprach, dass ich Angst hätte ihn zu verlieren, schien er mir zu begreifen. Um Weihnachten herum war die Chemopause, es hieß abwarten ob sie anschlägt, das MRT abwarten. Es klingt abgegriffen, aber wir machten das Beste draus. Er sagte einmal, das Gute sei ja, dass wir jetzt so viel Zeit zusammen mit Kira verbringen könnten, wie wir es nicht könnten, wenn er gesund sei und immer einer von uns arbeiten müsste. Wir gingen am Kanal spazieren, als er das sagte, das Wasser dunkel in der frühen Dämmerung der Weihnachtszeit. Schwäne weiß und zwölf an der Zahl und ich musste an das Märchen der zwölf Schwäne denken, wo die Verdammnis, der Fluch am Ende gebannt wird. Und dann Silvester, zuhause mit einigen Freunden. Es nicht zu hoch hängen, sagte ich mir. Alle auf dem Dach um Mitternacht, außer ich. Ich mit Kira auf dem Arm am Fenster, der die Lichter anschaute und ruhig war. Ruhig und warm und ich hielt ihn fest. Ein Vorgeschmack auf das was kommen würde, dachte ich. Ich allein mit Kira. Ich schaute nach draußen. Ein Blick durch die Scheibe auf die Welt, die das neue Jahr feiernd beging. Dieses Jahr verschlief Kira den Jahreswechsel. Um 2h regte er sich und wollte nicht mehr allein in seinem Bett sein, also holte ich ihn zu den Anderen in die Küche, er lief vergnügt herum und holte seine Schuhe. Till sagte witzelnd, Kira hole seine Tanzschuhe und wolle ins Berghain gehen. Ein paar Tage später hatte er wieder Fieber. Nächster Infekt. Ohrenschmerzen, denn er jammerte und hielt sich die Ohren. Eine ganz leise Stimme im meinem Kopf fragte mich, ob er vielleicht auch einen Tumor haben könnte, keine Ohrenschmerzen, sondern Kopfweh. Ich antwortete nicht und sperrte die Stimme weg. Kleine Kinder zucken manchmal wenn sie fiebern. Unwillkürliche Muskelzuckungen nennt man das anscheinend. Nicht zu verwechseln mit einem Fieberkrampf, bei dem das Kind nicht ansprechbar ist. Als Kira vor Weihnachten wie am Spieß schreiend aufwachte und ihn ein Zucken durchfuhr wie ein Stoß mit einem Elektroschocker, er schrie und erneut zuckte, durchfuhr mich die Panik. Ich war allein, packte ihn, runter in die WG, niemand da. Panik. Er schrie und zuckte erneut. Ich wählte 112. Schilderte alles und als ich endete war das Zucken vorbei, er schlief auf meinem Arm. Der Mann am Telefon fragte, ob er jetzt einen Wagen schicken sollte oder nicht. Ich sagte nein, bedankte mich und legte auf. Telefonierte mit dem Notfalltelefon der Krankenkasse. Nicht hilfreich. Er schlief auf meinem Arm. Ich wagte nicht mehr ihn abzulegen. Der Arzt am nächsten Morgen in der Notfallsprechstunde im Krankenhaus wusste auch nicht so recht. Kein Fieberkrampf meinte er, kein Krampfanfall meinte er. Ich stimmte zu. Ich weiß wie ein Krampfanfall aussieht. Damit endete die Schonzeit letztes Jahr. Nach Silvester, Thermenhotel mit Johannes und Freunden. Ich wusste sofort, dass er es war der da lag. Epileptische Anfälle sind nicht selten bei Gehirntumorpatienten. Danach war Johannes anders. Ganz anders. Keine Energie, kein Lächeln, kein Funkeln mehr in den Augen. Das war vorgestern vor einem Jahr. Morgen vor einem Jahr haben wir geheiratet. Ich spule alles ab. Diese verrückten Tage, die so dicht waren. Mit Bene saß ich dann heute in der Küche beim Abendessen. Kira klopfte mit beiden Händchen auf den Tisch und verlangte mit Vehemenz, dass wir alle gemeinsam die Hände hoch in die Luft reißen, „och!“, krakelend. Dann reichte es ihm, „Bist du fertig? Satt?“, er schob sich und seinen Hochstuhl vom Tisch weg und versuchte sich aus diesem heraus zu aalen. Schafft er noch nicht, aber fast. Während Kira in seiner neuen Spielzeugküche spielte, erzählte ich Bene von allem und alles und wischte mir eine Träne weg. Wenn man mindestens ein Jahr verheiratet war, bekommt man Witwenrente. Waren wir nicht. Wir beantragen die Witwenrente trotzdem, sagt Bene. Wir versuchen es zumindest. Er versucht es, ich fülle mit ihm die Formulare aus, endlose Dokumente, endlose Informationen, sinnentleert, Bürokratie Deutschland. „Mitgliedsnummer der Krankenversicherung der Rentner. Noch nie gehört. Ich bin doch keine Rentnerin. Was zur Hölle wollen die von mir?!“. Wir redeten mal wieder darüber, was für diesen Antrag noch fehlt, was die Anwältin rät und dass wir das Auto ummelden müssen. Johannes Auto. Jetzt meins. Es ist so viel und es kostet mich so viel Energie, mich mit diesem ganzen Nachlasszeug zu beschäftigen. Erschöpft ließ ich den Kopf auf die Tischplatte sinken. Kira räumte gerade sein Lieblingskuscheltier, den Otter, der langsam schon ganz schön zerzaust ist, in das Fach seiner kleinen Küche ein, das glaube ich eine Microwelle darstellen soll. Türe zu. „Großartig.“, sagte ich, „Wenn du den Otter in der Microwelle grillst, können wir Ikea verklagen, weil sie nicht auf die Packung geschrieben haben, dass Tiere nicht in die Microwelle gehören, dann brauchen wir keine Witwenrente zu beantragen, sondern leben einfach vom Schadensersatz.“. Kira kuckte wenig interessiert zu mir hoch. Seine ozeanblauen Augen blitzten dann schelmisch, als er mein Lachen sah und er zog die kleine Nase krauss. Er wandte sich erneut geschäftig ab. Otter raus aus der Microwelle, Reh auf die Herdplatte, Tiger ins Waschbecken. Ich glaube wir müssen diesen miesen Antrag doch stellen. Ich lasse die Küche unaufgeräumt bis morgen, die Wäsche hängen und starre. Starre die Wand an.

3 Kommentare zu „Uups, it happend again.

  1. Guten Abend,
    Habe mich die letzen Tage durch alle Texte hier gelesen und bin sehr berührt.. Wegen des Inhalts und weil sie sehr gut geschrieben sind.
    Ich wünsche von Herzen alles Gute.
    Natalie
    (Ist „Kira“ ein Pseudonym, habe den Namen noch nie für einen Jungen gehört…“

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