Jahrestage

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Es ist die Zeit, wenn die Lindenblätter zu fallen beginnen. Nicht wie der Ginko, der sich plötzlich gelb färbt und dann in einer Nacht, möglicherweise mit dem ersten Frost, das wäre jedenfalls meine wilde Laienspekulation, alle Blätter gleichzeitig abwirft. Die Blätter der Linden an den Straßenrändern fallen nach und nach. Gelb die, die fallen. Die schwerfällig späte Oktobermorgensonne hebt sich nur langsam aus den Tiefen der herbstlichen Nacht und steht noch tief, als ich von der Kita mit leerem Kindersitz nach Hause fahre. Das Licht ist hell und blendet mich. Es bringt die matschige Spur aus feuchten Blättern auf dem Fahrradweg zum gleißenden Leuchten. Was ist das mit Jahrestagen? Zu wissen, dass an dem Tag vor einem Jahr: erste Anzeichen, leichte Wortverwirrungen. Dann der Krankheitsbeginn, plötzliche Übelkeit, Apathie, Verwirrtheit. Nach einer Woche die Krankenhauseinlieferung, das CT. Dieser schreckliche Anruf abends: Gehirntumor. Die OP, heute vor einem Jahr dann die genaue Diagnose: Glioblastom. WTF. Ich wusste nichts über die WHO Skala der Tumore, Gehirntumor Grad IV, Glio-was? Heute kennt sogar das Rechtschreibprogramm meines Handys die Wörter: Krankenhaus, Gehirntumor, Friedhof und viele mehr. Sie werden mir vorgeschlagen, wann immer ich eine Nachricht tippe in der annähernd ähnlich beginnende Worte vorkommen. Es kam so plötzlich wie der Ginko seine Blätter abwirft und ich fiel, wir fielen. Alle gleichzeitig. Zu wissen wo man war, wie man war, Geräusche, Gerüche, Szenen. Wo man jetzt ist, wie es jetzt ist. Die Veranschaulichung der Zeit. Manche Menschen haben das mit Geburtstagen. Ich mochte meinen Geburtstag eigentlich immer ganz gern. Möglicherweise ist es das Bedeutungsschwangere an diesen Tagen und das Resümieren, was Angst macht. Ich mag Bedeutung. An den Jahrestagen ist es das Erinnern, aber oft nicht genau an ihnen, sondern einen Tag früher oder später oder eine ganze Woche lang. Ich versuche gut zu planen, aber ich kann es nicht kontrollieren. Es bricht doch irgendwie plötzlich über mich herein. Der Sommer war gut, denn der Sommer war ohne Jahrestage. Jetzt kommen sie dafür wie Perlen an einer Gebetskette. Ich nehme jede vorsichtig in die Hand und streiche sie mit dem Daumen weg, auf die andere Seite. Kein Ave Maria. Kein Vater Unser, literally. Wenn man nur vorher wüsste, wie es dann ist, wenn sie da sind. Ich weiß immer vorher, dass es nicht leicht wird. Aber was heißt das? Mein Kopf sagt mir im Vorfeld, „Gib Acht!“, „Übernimm dich nicht, vielleicht brichst du zusammen“. Aber wann kommt er der Zusammenbruch? Wenn man das planen könnte. Ich habe versucht der engsten Aneinanderreihung der Jahrestage, da wo die Perlen besonders dicht gereiht sind, zu begegnen, indem ich nicht zuhause bin. An einem anderen Ort, nicht am Ort des Geschehens und nicht allein. Nicht allein mit Kind. Also war ich am Meer. Mit Freunden. Das Meer war glitzernd und schön, das Gras auf den Dünen silbrig leuchtend und ich, so wütend. Die ersten Tage war meine Wut wie eine Schlange, die sich tief in meinem Bauch wand und fauchend spie, wann immer es Gelegenheit gab. Die Schwäche der Anderen als Gelegenheit. Wenn sie langsam waren, müde oder kränklich. Die Wut auf die Nächsten. Die Wut, die sich nicht am Kind entladen darf, faucht den Freunden schnippisch ins Gesicht. „Wann brechen wir auf?“, „Kann ich noch ne viertel Stunde haben? Ich will noch mein Brot aufessen.“, „Wenn es unbedingt sein muss!“ antwortete ich, aber nicht ironisch, sondern mit trockener beißender Kälte. Das als Ironie zu nehmen und nicht als kränkenden Zynismus hätte mich vielleicht befreit, mir den Spiegel vorgehalten und mir dabei gezeigt, dass ich nicht alles darf, aber dass ich ausgehalten werde mit der Wut. Die Schlange, die sich gleichzeitig um meine Trauer schlang, sie unten fest hielt und nicht hoch kommen ließ. Sie ließ los und löste sich in Schmerz auf, als ich am fünften Tag Joggen war. Eine Stunde im Wald, rennen, spüren. Am Ende Dehnen an einem umgestürzten Baum. Die Anspannung weg, das Gesicht zum Himmel in die, sich im Blätterwerk brechenden Strahlen gereckt. Ich blickte ins dunkle Grün des Märchenwaldes, schweißnass, der Atem schnell, so lebendig, so frei. Dann weinte ich und konnte nicht aufhören bis zum Abend. Alles tat weh, der Kopf, der Rücken, Übelkeit. Irgendwann fragte ich, ob man keine Tränen mehr habe, wenn man nur genug weine und jemand sagte mir mit einem Lächeln, dass der Körper zu 90% aus Wasser bestehe, ich also wahrscheinlich noch einen Weile weitermachen könne. Das war vor einer Woche. Heute wird es genauso, oder so ähnlich. Ich weiß es, denn die Sonne sticht mir in die Augen, der Schmerz flammt auf und ich sehe mich, wie ich nach dem Arztgespräch die Station verlasse, das schreiende Kind aus dem Arm meiner Freundin Claire, die im Warteraum neben den Aufzügen steht, nehme und es auf einem der Plastikklappstühle unter dem Neonlicht stille. „Unheilbar…eine Frage von Wochen bis maximal Jahren“ hallt es in meinem Kopf nach.

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