
Wenn du jemanden verlierst, gibt es Sätze die sich wiederholen, die unterschiedliche Personen, in unterschiedlicher Formulierung und Intonation sagen. Sie sagen: „Das erste Jahr ist das Schlimmste, es heißt nicht umsonst Trauerjahr.“. Ari sitzt in meinem Wohnzimmer auf dem großen quietschpinken Gummiesel von Kira, den Jan und ich in einem spontanen Shoppinganfall à la: „Oh, kuck mal, das braucht Kira, oder?!“, „Ja, lass kaufen“ beim Vorbeigehen an einem der vielen Ramschläden hier im Kiez gekauft haben. Der Esel ist so groß, dass Kira wenn er steht genau die langen Gummiohren annagen kann. 100% Weichmacher garantiert. Großartiges Kinderprodukt. Ari sitzt trotzdem auf dem Esel und sieht dabei etwas besessen aus. Das rührt von der fatalen Mischung her, innerhalb von einer Woche eine Hausarbeit schreiben zu müssen (warum der Stress ist eine andere Geschichte) und zum zweiten Mal dieses Jahr Zeug_in gewesen zu sein, als eine Leiche durchs Treppenhaus transportiert wurde. Also meiner Meinung nach, rührt die Besessenheit daher. Ari fragt sich noch, warum die Laune so komisch ist. Ich unterbreite Ari meine Theorie, die meiner Meinung nach Fakt ist. „Das ist irgendwie nicht normal, oder? Warum ist das so? Warum sieht man nicht öfter Leichenwägen vor Häusern, und Träger mit einer verschlossenen Bahre in Treppenhäusern? Ich seh nie welche sonst, und du?“ sagt Ari und wippt auf dem Esel, der unter dem Gewicht einer erwachsenen Person seine Beine spreizt und seinen Bauch auf den Boden drückt. Ich liege auf dem Podest Bett, das mein Sofa ist und denke daran, dass mein Wohnzimmer noch vor kurzem Johannes Zimmer hieß. Ein paar Monate lang hab ich es immer „Johannes altes Zimmer“ genannt, aber vor kurzem bin ich dazu übergegangen, es mein Wohnzimmer zu nennen. Denn das ist es jetzt. „Ja, ich seh auch nie sonst sowas. Vielleicht stirbt man heute nicht so oft zuhause? Eher im Krankenhaus, oder im Altenheim? Oder im Straßenverkehr.“. Ich überlege, dass Johannes Bett weg ist und auch manches anders stand und was ich schon verändert habe in dem Zimmer, was noch ist wie es war und ob es eine Mischung aus Vergangenem und Neuanfang ist, die sich für mich gut anfühlt. Denn es gibt keine Regel, keinen Ablaufplan. Ab wann verändert man das Zimmer eines Toten, ab wann ist es nicht mehr das Zimmer des Toten, ab wann sortiert man aus, schmeißt sogar Dinge weg? Für mich war klar, ich will kein Museum, keine konservierte Zone eines Lebens, dass vergangen ist. Aber ich will auch in der Wohnung bleiben. Möglicherweise gibt es Menschen, die dann weg wollen, weg von dem Ort, weg von dem Schauplatz. Ich nehme den Schauplatz und verändere die Kulisse. Ich habe mal von jemandem gehört, der das Zimmer der toten Frau 20 Jahre lang unangetastet lies, nur um eine Art Schrein ergänzt. Das kann man auch machen, aber dann lebt man in einem Museum. Ich will weiterleben, mein Leben neu gestalten, ohne die Vergangenheit abzuschneiden, aber auch nicht im Schatten dieser. Erlebnisse integrieren. Was heißt das? In einem meiner schlauen Bücher steht sowas in der Art, dass wenn man den Tod und damit auch die eigene Vergänglichkeit, vielleicht nicht akzeptiert, aber doch hinnimmt ohne vor Schreck zu erbleichen, dann wird der Tod zu einem Thema des Lebens. Den Umgang mit dem Tod leben, erlebbar machen, nicht abscheiden und in eine dunkle Ecke verbannen. Aber wie geht das, wenn nirgends gestorben wird. Keine Leichenwägen, nirgends. Es gibt keine Normalität mit dem Tod, keine Integration in unseren Alltag, in unser Leben. Das müssen die machen für sich, die damit konkret konfrontiert sind. Wie wir jetzt. Ari wollte wohl gerade aufbrechen, um zu mir zu fahren, stand direkt vor der Wohnungstür, als das Weinen laut durch die Tür drang. „Ich wusste sofort, dass sind Lavina und ihre Mutter, meine Nachbarin, der ihr Bruder schon seit Jahren krank war und zuhause mit ihr und ihrer Mutter lebte. Ich wusste er ist tot, sofort, kein Zweifel.“. „Wie, du hast gar nicht gekuckt?“, frage ich. „Nein, es war klar. Ich hatte glaub ich schon die Hand an der Türklinke, aber ich hab losgelassen und da gestanden und konnte mich nicht rühren. Ich konnte da nicht raus, wollte nicht, aber ich wusste es.“, Ari atmet tief durch. Der Sound der Trauer, den wir kennen. „Dann bin ich in die Küche und hab meinen Mitbewohnis, die grade da waren gesagt: er ist tot und sie tragen grade seine Leiche raus.“. „Hä, aber wie konntest du es denn so sicher wissen?“, unterbreche ich. „Naja, dann bin ich ans Fenster und unten stand ein Leichenwagen, aber es war mir schon vorher klar. Die Geräusche die Lavina gemacht hat und ich wusste ja, dass er krank ist“. Anscheinend ist es so, dass wir 6 Monate nach dem Tod von Johannes nur ein Weinen durch eine Tür zu hören brauchen, um zu wissen was los ist. Als wäre alles noch ganz nah. Halbzeit.