
Es sind drei. Sie stehen an der Ecke meines Hauses und unterhalten sich laut im morgendlichen Nieselregen. Zwei haben einen Kinderwagen dabei, der eine leer, der andere noch mit Babyschale und den Blicken der Frauen nach zu urteilen, liegt in dem ein Kind. Die zwei jüngeren Frauen, beide wahrscheinlich Mitte 20, umrahmen die ältere. Alle sind bleich wie vergilbte Laken. Fahlblondes Haar die beiden Jüngeren, die Ältere eine rot gefärbte Kurzhaarfrisur mit breitem grauen Ansatz. Eine der beiden Jüngeren streicht sich nervös eine Strähne ihres dünnen Haares aus dem Gesicht. Beide Jüngere haben fettige Haare. „Wie ich.“, denke ich. Auch Mütter eben, aber da hört die Ähnlichkeit auf. Wir sind einander Fremde, wohnen womöglich im gleichen Block, aber in getrennten Welten. Die Festlegung der Klassenzugehörigkeit ist wie Geschlechtszuordnung, sie geschieht in den ersten Bruchteilen von Sekunden. Diese tief verankerten Kategorien, mit denen unser Unbewusstes die Welt ordnet und Differenzen schafft. Das sitzt so tief, dass es natürlich anmutet. Nicht bewusst und deswegen vom Gefühl her richtig, wahr, echt. Mit dem ersten Seitenblick beim Heraustreten aus meiner Haustür habe ich erfasst, dass diese drei und ich nicht zusammen gehören. Andere Box. Deckel zu. Die Minuten, die ich brauche um Kira in den Fahrradsitz zu stopfen und ihm all das anzuziehen, wogegen er sich in der Wohnung oben lautstark gewehrt hat, weil er unbedingt sofort raus wollte, höre ich dem Gespräch der drei zu. Voyeuristisch neugierig. Ich bin kein Engel. Das ist es mit den Vorurteilen, wir hören zu, aber mit einem Filter auf dem Ohr. Ein Trichter, der aussiebt, was es zur Aufrechterhaltung, dessen was uns sichert, braucht. Was ich höre ist der Vergleich verschiedener Kinderwägen. Dann wie beiläufig, den Übergang verpasse ich, weil ich versuche Kira die Schuhe anzuziehen, beginnen sie sich über ihr Leben auszutauschen. Es sind alles Alleinerziehende und die Ältere ist eine Art Rat Gebende, deren Kinder schon aus dem Haus sind, die weiß. Weiß wie es läuft, die sich mit Kinderwägen auskennt, weil ihre Älteste bereits eigene Kinder hat und sie ihre Enkel dreimal die Woche nachmittags betreut. Die Frage muss wohl gewesen sein, ob das Kind im Wagen noch gestillt wird, denn die mit der Haarsträhne verneint. Sie berichtet von der Zwickmühle eine Abschlussprüfung machen zu müssen, als das Baby 4 Monate alt war und der Notwendigkeit es eine Weile 8h pro Tag abzugeben. „Da konnte ich nicht stillen. Eigentlich hätte ich schon noch gewollt.“, entschuldigt sie sich. Sie erzählt von dem Versuch ihres Exfreundes sie zur Abtreibung zu zwingen. „Meiner war weg, als die Kleine 9 Monate war.“, wirft nun die Jüngere mit dem leeren Kinderwagen ein, „Sagte, er liebe mich nicht mehr.“. Plötzlich weiß ich nicht mehr wer wohin gehört, meine Box ist kaputt. Vielleicht sind wir doch in der gleichen Kiste gefangen? Wir drei? Ein Teil in mir sträubt sich, schließlich ist Johannes tot. Als hätten schlechte Entscheidungen diese Beiden dahin gebracht wo sie sind, mich aber das Schicksal. Aber stimmt das? Meine Situation ist schlimm, aber mich umschwirrt das Opfernarrativ. „Die Arme, krasser Schicksalsschlag, ungemein schlimm…“. Jeder hat Verständnis, niemand wertet mich ab. Die geteilte Anerkennung der Beschissenheit der eigenen Situation haben diese Beiden nicht auf ihrer Seite. Sie sind normale alleinerziehende Mütter, wo sich die Väter nicht kümmern. Normal. Ende der Geschichte. Das stinkt zum Himmel, denke ich und dennoch bleibt ein Rest der eigenen Überheblichkeit und auch der Entfremdung. Sie sind nicht durch das gegangen, wo ich das letzte Jahr durch musste. Aber vielleicht sind sie schon immer durch mehr gegangen, als ich je musste. Weniger privilegiert von Anfang an. Wer weiß? Es lässt sich nicht auflösen, mein Knäul widerstreitender Emotionen und verwirrter Gedanken. �