Der Stein

Mit dem Fahrrad zurück nach Hause. Der morgendlichen Sonne entgegen. Es ist neun Uhr morgens und ich habe Kira wie immer etwas früher als neun in die Kita gebracht. Wahrscheinlich spiegelt sich darin mein ungeduldiger Wunsch ihn abzugeben. Früher, schneller, länger. Zeit für mich. Endlich. Wie ein gierig mit dem Huf scharrendes Pferd stehe ich morgens im Flur und habe meist bereits viel zu früh alles gepackt. Zehn Minuten Leerlaufzeit, in denen ich mal wieder über die Relativität der Zeit staune. Wie können 10Minuten soooo dehnbar sein? Während ich dies schreibe, kann ich den Gedanken nicht abwehren, dass es vielleicht sinnvoll wäre zu erwähnen, dass ich ihn ja durchaus liebe, den Kleinen. Was sagt das aus über unsere Gesellschaft, meine inneren Dämonen der Sozialisation. Frau darf sich ja nicht einfach freuen das Balg loszuwerden. Der beteuernde Nachschub der unbedingten Mutterliebe. Und dies, obwohl in meiner Situation ja sogar die horstigsten der besorgten Horsts einräumen würden, dass es berechtigt ist, sich Zeit für sich zu wünschen. Zeit um zu trauern, versteht sich. Zeit, um so zu trauern, wie die sich Trauer vorstellen. Traurig, immer. Zeit um pfeifend mit dem Fahrrad zu fahren, eher nicht. Das Gesicht in die warmen Sonnenstrahlen gereckt, den kalten Herbstwind um die Ohren, Cat Powers Song Cherokee auf den Lippen und immer wieder die eine Zeile singend: „If l die before my time, bury me upside down“. Wobei das Internet steif und fest behauptet, die Zeile würde lauten: „feels like time is on my time“, mein Kopf versteht und singt ersteres, passt wahrscheinlich besser. Beschwingt sein, wenn man am Tag zuvor den Grabstein des Mannes aufgestellt hat. Gestern: Keine Zeit, keine Kraft zu schreiben. Der Tag so voll. Morgens los, Kira dabei. Ab ins Auto. Mein Freund Jan fährt, meine Schwester Ari hinten bei Kira, ich auf dem Beifahrersitz. Kira freut sich tierisch über den Ausflug, zappelt mit den Füßchen und kreischt immer wieder wie ein kleines Äffchen. Außerdem googelt er. Wir nennen das so. Er reiht das Wort Google aneinander. Ari sagt, Kira sei eben ein Digital Native. Draußen ist es kalt, aber die Sonne scheint dennoch durch die vom Saft der Linden klebrigen und staubigen Autoscheiben. Jan versucht die Frontscheibe mit wiederholten Scheibenwischerflüssigkeitsbesprühungen zumindest soweit sauber zu bekommen, dass wir den Gegenverkehr gefahrlos erkennen können. Ich übertreibe. Aber schlierenfrei wird es nicht, das ist klar. Mir egal, genau mein Stil. Deswegen ist auch die Scheibenwischerflüssigkeit genau in dem Moment leer, als das Ergebnis ausreichend scheint. Johannes, mein toter Partner, wäre sofort zur Tanke gefahren und hätte die Scheibe noch schnell geputzt. Egal wie spät wir dran waren, das hat er immer gemacht, egal wie laut ich protestierte, es sei ja wohl ok so und man könne ja durchaus was sehen und wir könnten das doch später machen, ich wolle jetzt los und nicht zu spät kommen. Er hat das ignoriert. Jetzt ist er tot. Ob wir ihn upside down begraben haben weiß ich nicht, da wir ihn verbrannt haben. Die Urne steht jedenfalls mit dem Deckel nach oben im Grab. Ich muss es wissen, ich habe sie runter gelassen. Die Autofahrt lang spekulieren wir, ob seine Mutter wohl kommt. Sie weiß, dass wir heute den Stein setzen, aber glücklicherweise ist sie nicht in der Stadt. Wir haben es ihr auch recht kurzfristig gesagt. Wir haben es auch recht kurzfristig geplant. Letzte Woche. Das ist die Art der Kompromissbildung, die den Wunsch sie nicht dabei zu haben und das wissende Gewissen, dass sie aber als seine Mutter das Recht hat zu kommen, unter einen Hut bringt. Dinge so zu arrangieren, dass man möglichst verunmöglicht was man fürchtet. Ich will sie nicht sehen, meine Wut auf sie ist so groß, dass ich mich hart zusammen reißen muss nicht zu schreien, wenn ich sie treffe. Ihre Wut auf mich ist Hass, kalter Hass, auch wenn sie dies abstreitet. Wir können nicht zusammen trauern. Diese unnötigen Belastungen, die Familienstreit heißen und die sich wie Lavaeruptionen nach einem großen Seebeben explosiv den Weg an die Oberfläche bahnen und alles verbrennen was noch gut und ganz ist. Vor seinem Tod war das Verhältnis ok, nie eng, nie wirklich warm, aber ich konnte sie anerkennen, in ihren Fähigkeiten, sie anders sein lassen als ich, ohne sie abzuwerten. Aber als ihre mangelnde Anerkennung mir gegenüber zu abstrusen Phantastereien und Anschuldigungen wurde, konnte ich nicht mehr. Meine Grenzziehung führte zum Kontaktabbruch ihrerseits und nun stehen wir hier. Das letzte Event voraussichtlich für eine eine ganze Weile, an dem sie und ich uns über den Weg laufen könnten. Sein Vater, über den nun die Kommunikation läuft, versicherte sie komme nicht. Aber andere Situationen haben mich in den letzten Monaten gelehrt, dass alles zu erwarten ist. So frage ich die anderen Beiden, ob sie denken, dass sie sich womöglich von einem Heli abseilen wird. „Was mache ich wenn sie kommt?“, frage ich. „Atmen“, sagt Ari und noch zwei Sätze, die so sehr nach unserer Mutter klingen, dass ich lachen muss. Familie. Sie steckt einem in Mark und Bein. Im Guten wie im Schlechten. Am Tor zum Friedhof treffen wir den Steinmetz und Johannes Vater, die den Stein gemeinsam her transportiert haben. Ich bin plötzlich aufgeregt, aber freudig, ich habe ihn noch nicht gesehen, den fertigen Stein. Wir haben ihn ausgesucht, ich und Johannes Vater, einen Findling aus dem großen Grundstück im Brandenburger Land auf dem Johannes aufgewachsen ist. Ein alter Bauernhof. Ich mag den Ort. Den magischen verwunschen riesigen Garten, der sich hinter der alten Klinkerscheune und dem pittoresken Bauernhaus erstreckt. Ich mag den satt grünen Farn hinter dem alten Hühnerstall aus Lehm, die Obstbäume, die Tomaten, die an der von der Sonne erwärmten Grundstücksmauer wachsen. Das hätte ihm gefallen. Etwas Altes beleben, etwas Gefundenes nutzen. Ich spähe durch die Scheibe in den Kofferraum, wo der Stein liegt. Er ist wunderschön. Alles steigt in mir hoch. Als wir ihn aus dem Auto wuchten, bricht zunächst die emsige Betriebsamkeit den Bann meiner Aufgewühltheit. Aber als er dann da liegt, hellgrau mit weißen Adern, die kleine Wellen auf die Oberfläche zaubern und ich den Namen und die Daten sehe, die in Jugendstilschrift gemeißelt und mit Blattgold ausgelegt in der Sonne schimmern, kommen sie, die Tränen. Die Lieben, die ich mitgenommen habe, damit sie genau das tun, was sie nun tun, flankieren mich. Von beiden Seiten eine Hand auf der Schulter. Der Schmerz der offenen Wunde lässt mich unter der Berührung erstarren. Ich gehe ein paar Schritte durch den mit lichten Flecken gesprenkelten Waldboden, allein. Den Namen auf einem Stein zu lesen. In Stein gemeißelt die Tatsache, dass er tot ist. Weg, Nichts, nicht mehr. Nicht hier, nirgends. Ich gehe zurück und lächle durch die Tränen. Ein Schritt nach dem anderen.

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