
Ich wache mit Wut auf. Sie sitzt tief in meinem Bauch. Es wird nicht besser, als sich von Kira, der neben mir liegt, ein feuchter Fleck ausbreitet. Die Windel ist übergelaufen. Er setzt sich auf, wach und etwas erbost, weil ich ihm schnell die nassen Sachen vom Leib reiße, kaum, dass er die Augen aufgemacht hat. Im Kopf führe ich ein Zwiegespräch und grüble über toxische Männlichkeit, während ich Kira von der dicken, übervoll gepinkelten Windel der Nacht befreie, unten ohne auf dem Teppich in meinem Zimmer spielen lasse und Kaffee aufsetzen gehe. Ich denke nach über die, unsere Gesellschaft definierende männliche Norm, der zu entkommen so schwer ist. Johannes hat nie gut auf sich aufgepasst, immer am Limit dessen was er schaffen konnte, überarbeitet und aufopferungsvoll. Fürsorglich mir gegenüber. Aber gegenüber sich selbst unerbittlich. Es sind auch die scheinbaren Kleinigkeiten. Nicht zum Arzt zu gehen, um Unwohlsein abzuklären. Nie zu genügen, immer leistungsbereit. Irgendwie selbstzerstörerisch. Mit meiner Kaffeetasse sitze ich schließlich ans Sofa gelehnt auf dem Boden und versuche so viel wie nötig und so wenig wie möglich mitzuspielen, bei den frühmorgendlichen, geschäftigen Bemühungen meines Kindes die Welt zu ordnen. Denn das tut er derzeit ständig. Gerade schleppt er Bücher über Bücher an und breitet sie vor sich aus. Immer wieder brabbelt er „Bu“, „Bu“, was meiner Meinung nach Buch heißen soll und „cool“, was der geteilten Meinung aller Personen meines engsten Umfeldes nach cool bedeutet und wohl heißt, dass dieses Wort in meinem Sprachgebrauch sehr häufig vorkommt. Endlich hat er drei Bücher aus dem Haufen geklaubt und er ist begierig mir irgendwas zu zeigen, legt sie nebeneinander und deutet abwechselnd auf verschiedene Figuren. Nach Minuten begreife ich, dass in jedem Buch die gleichen Tierarten vorkommen: Hase, Maulwurf und Igel. Ich bin so stolz. „Oh, du bist so schlau, du Süßer. Wow, was du wieder Neues kannst!“, er lacht. Ich bin voller Liebe. Sofort möchte ich ihn teilen, diesen Moment. Wohl weil mein Innerstes bis tief hinein begriffen zu haben scheint, dass Johannes unwiederbringlich tot ist, kommt mir in solchen Situationen nie der Gedanke, ER solle da sein. Was kommt, ist der Impuls meinem engsten Kreis in unserer Chatgruppe zu schreiben. Eine dieser mir Nahen anzurufen und ein Lächeln im Klang der vertrauten Stimme zu hören. Aber es ist 7h morgens, Samstag und alle schlafen oder teilen ihren Morgen mit jemand anderem. Außerdem kann ich auch nicht ständig alles in diese Gruppe schreiben. Also sitze ich weiter ans Sofa gelehnt und weine ein bisschen. Meine Momente des Selbstmitleides sind sehr begrenzt, aber kurz tue ich mir so leid, dass ich wieder wütend werde. Diesmal auf das Schicksal. Dann begreife ich, dass heute der Todestag ist, also heute vor 6 Monaten habe ich ihn gefunden. Ungefähr um diese Uhrzeit. In diesem Moment entschließt sich Kira in großem Bogen auf den Teppich zu pinkeln. Ich werfe reflexartig seine dreckige Hose von gestern, die neben mir liegt, in den Strahl, in der Hoffnung, dass der Teppich verschont bleibt. Sonst lege ich meist eins der Babyspucktücher neben mich, um genau für solche Aktionen gewappnet zu sein, so muss nun die Hose dran glauben. Der Teppich ist trotzdem nass. Manchmal frage ich mich, ob es einen Ort in der Wohnung gibt, den er noch nicht angepinkelt hat. Das hört sich irgendwie widerlich an, dabei ist meine Wohnung eigentlich ganz schön. Kira betrachtet vergnügt seine etwas feuchten Füße. Ich bin so langsam heute Morgen. Ich will hier sitzen und in Ruhe meinen Kaffee trinken, denken, wütend und traurig sein. „Aber wenigstens hat er nicht auf den Teppich gekackt.“, denke ich, kippe den letzten Schluck Kaffee hinunter und stehe auf.