Magen-Darm und Regen

Manchmal ist eine erstaunliche Schicksalsergebenheit den kleinen Unglücken und Missgeschicken gegenüber die Folge krasser Lebensereignisse. Und dann kommen sie wieder, die schönen kleinen Dinge, die sich ergeben, weil man weitermacht, den Tag nimmt, wie er anfängt und ihn dann irgendwie gut enden lässt. Es zulässt, dass etwas gut werden kann. Ich komme seit Tagen nicht zum Schreiben. Ein krankes Kind wirft einen sofort zurück in Vorkitazeiten. Ich sitze hier, er schläft, meine Freundin Claire ist grade losgegangen. Wann fing es an? Letzte Woche, rückblickend am letzten sonnigen Tag, meine Laune hatte sich gerade langsam wieder verbessert. Mit meiner Freundin Salome und ihrem Kind auf dem Spielplatz. Wir treffen uns fast immer irgendwo in der Mitte, also zwischen Friedrichshain und Neukölln, diesmal Kreuzberg. Ich war also für meinen alltäglichen Radius quasi maximal weit weg von zuhause. Kira kam gut gelaunt aus der Kita, dann ziemlich still im Wagen. Ich lag mit ihm auf der großen Korbschaukel, er auf meinem Bauch, ich lachte und schaute in die, zwischen den Blättern über mir durchblitzenden Sonnenstrahlen. In diesem Moment kotzte Kira mich direkt an, ins Gesicht, auf den Pulli, bis runter auf die Schuhe. Er heulte. Wohin mit ihm? Erster Impuls, ihn zu mir gewandt auf den Arm nehmen. Zweiter Impuls, ausgelöst vom Gedanken der mir durch den Kopf schoß „Verdammt, er kotzt weiter“, von mir weg halten. Mit Babyfeuchttüchern zumindest die Stückchen entfernt, nach Hause. Das war vor 5 Tagen. Dann ging es ihm wieder besser, wenig Appetit, aber gut gelaunt. Dann kam der Durchfall, gestern, die ganze Nacht. Windeln wechseln, 6 Mal, vielleicht auch mehr. Schlaftrunkenheit verringert meine Merk- und Zählfähigkeit. Gut ausgerüstet, nach dem Kotzen von letzter Woche, hatte ich eine Packung Windeln, Feuchttücher, Handtücher und genug Tee-Hafermilchmischung zum Fläschchen nachfüllen neben dem Bett. Irgendwann in der Nacht, es war nicht das erste Wickeln, erwachte ich wieder von Kiras weinendem Schreien. Er lag neben mir, brüllte mir ins Ohr, dann der Pups und der feuchte Ton, der mich wissen ließ, dass die nächste Wickelaktion nötig war. Diese Hoffnung bei jedem Erwachen, dass er einfach nur trocken pupsen könnte, oder sich einfach nur so auf die andere Seite drehen und ich zurück in den Schlaf sinken könnte. Ich habe es aufgegeben einen kranken Kira in sein Bett legen zu wollen und wir teilten uns mein Bett. Groß genug für uns beide ist es, solange Kira sich nicht wie ein Uhrzeiger kreiselt. Manchmal ist er auch aufdringlich und robbt mir nach, sobald ich etwas Abstand nehme, sodass ich irgendwann aufwache, direkt an der Bettkante, er neben mir und hinter ihm mehr als die Hälfte des Bettes frei. Süß ist er ja, wenn er seinen kleinen Arm um meinen Hals schlingt und sich nah an mich drückt. Aber so kann ich nicht die ganze Nacht schlafen. Ich wusste also: wieder ausziehen, Windel ab, aufpassen, dass im Halbdunkel des Zimmer nicht alles vollgeschmiert wird. Kira lag in seinem Schlafsack, selber im Halbschlaf, froh, unten rum nackig zu sein und ich bückte mich, um mir neben dem Bett eine neue Windel zu angeln. Diese Sekunde reichte ihm, um den nächsten Schwall übelriechender brauner Flüssigkeit abzugeben. Diesmal in den Schlafsack. Leise fluchend schälte ich ihn aus den Klamotten und dem Schlafsack. Ich rannte ins Bad, den Schlafsack in die Badewanne geworfen, schnell zurück zum nackt und heulend im Bett sitzenden Kind, dass in der Zwischenzeit eine Pfütze in die Mitte des Bettes gepinkelt hatte. „Was auch sonst“, dachte ich und breitete die Handtücher auf der Lache aus. Kira angezogen, an mich geschmiegt, weitergeschlafen. Die nächste Runde startete ich mit der Windel bereits in der Hand, bevor ich die alte ab machte. Man lernt nie aus. Am nächsten Morgen: er top fit, ich in einem katerähnlichen Zustand. Mutterkater. Das innere Ringen, ob ein munteres Kind, dass an der Wohnungstür steht und heult, weil es augenscheinlich raus will, in die Kita gebracht werden darf, obwohl es nachts Durchfall hatte, gewann der Teufel auf meiner Schulter. Meine Freundin Claire, eine der wenigen auch mit Kind in meinem engsten Umfeld, stieß vorhin, als sie kurz vorbei kam, eine Art erstaunt-entrüstetes Lachen aus: „Du Schrecken aller anderen Eltern.“. An Ansteckungsgefahr für andere habe ich irgendwie nicht gedacht. Nett. Meine Logik war: Die Kita sagt es geht ein Magen-Darm-Virus rum, ergo hat er es aus der Kita, ergo bringe ich ihn in die Kita, da haben es ja eh schon alle und versuche nach meiner beschissenen Nacht klarzukommen. Die Angst, die Kita könnte ihn nicht annehmen, muss ich aber gehabt haben, denn als ich mit ihm in der Garderobe stand, hörte ich mich nur erzählen, er habe Durchfall gehabt, GESTERN. Nicht die ganze Nacht. Claire hat Recht. Und Mutter Rabe flog nach Hause um sich hinzulegen. Aber zuhause wurde leider nichts besser. Festzustellen, dass man die Steuererklärung machen muss, da die Frist bereits seit drei Tagen abgelaufen ist, ist allein schon genug um schlechte Laune zu bekommen. Ich stellte beim Öffnen eines vor Wochen angekommenen Briefes fest, dass ich mir eingebildet hatte, die Steuer hätte mich um die Erklärung herumkommen lassen. Der Brief mit der Aufforderung eine Steuererklärung zu machen, kollidierte mit meiner Überzeugung, auf die ich gekommen war, weil ich vor Monaten einen Brief mit einem Steuerbescheid bekommen hatte, in dem ich überflog, dass ich Geld zurück bekommen würde. Mein Kopf legte es sich als Kulanz des Finanzamtes (!!WTF!!) zurecht. Natürlich alles Quatsch. Der Brief mit dem Steuerbescheid, war der Bescheid meiner Nachbarin, der anscheinend fälschlicherweise bei mir eingeworfen worden war. Ich hatte einfach drei Monate lang nicht den falschen Namen auf dem Brief bemerkt. Das passiert, wenn man sich den ganzen Sommer über nicht mit Papierkram beschäftigt und Scheuklappen aufsetzt. Ich weiß schon warum, denn als ich anfing die Unterlagen für meine Steuererklärung zu suchen, saß ich irgendwann zwischen einem Haufen offener Leitzordner auf dem Boden, Papierstapel überall und heulte. Überall zwischen den Ordnern oder vorne lose reingelegt, statt abgeheftet, fielen mir die Dokumente der Erinnerung an das letzte Jahr in die Hände. Elterngeldbescheid, Visitenkarte des Pflegestützpunktes, Infoflyer ‚Wenn Eltern Krebs haben‘, Schwerbehindertenantragsbescheid, Taxiquittung von der Fahrt zur Bestrahlung, Hospizliste, Arztbrief, Lageplan Friedhof. Ich habe einen Ordner, ‚Johannes“ steht drauf, sonst nichts, er ist voll, aber anscheinend hatte ich bisher nicht alles abgeheftet. Dann fiel mir ein Foto in die Hände, 2013, Ina, Johannes und ich, alle im Partnerlook. Gestreifte Shirts, lachend auf dem Balkon, fröhlich, hingerissen von der 3-er Sommerverknalltheit, die wir damals hatten. Das Foto in der Hand saß ich noch kurz auf dem Boden. Dann an den PC, Elster Steuerprogramm an, ich gab alles ein, was ich finden konnte, drückte den ‚Übermitteln‘ Button, fertig. Ich bin mir sicher sie kommt zurück, so neben mir stehend kann nicht alles korrekt sein, was ich da eingegeben habe. Ich packte meine Sachen, kurz runter in die WG, dann weiter, mit Jan treffen. Im Treppenhaus ruft die KiTa an, „Sie müssen Kira abholen. Er hat immer noch Durchfall.“. Wut, schlechtes Gewissen, ich warf die Tür laut ins Schloss. Jan kam mit Kira abholen, verkündete schlecht gelaunt zu sein und grinste mich dabei an. Als ich grimmig von meinem bisherigen Tag erzählte, lachte er, „ich fühl mich direkt besser.“. Ich lächelte. Als ich fragte, warum er schlecht gelaunt sei, verkündete er eigentlich keinen Grund zu haben. Daraufhin erwiderte ich, bei mir sei es eben umgedreht, ich sei gestern gut gelaunt gewesen und hätte keinen Grund gehabt. Blickwechsel, Lachen. Es fing an zu regnen, wie immer seit Tagen. Ich grinste, denn meine Gummistiefel erlaubten mir durch die tiefen Pfützen auf dem Gehweg zu stampfen. „Deswegen hast du den Weg ausgesucht.“, ich grinste weiter. Mit Kira, der gut gelaunt, wenn auch etwas müde wirkte, zurück Richtung nach Hause, Essen suchen. Ich hatte schon wieder keinen Appetit, wie immer seit Tagen. Die Frage danach, was ich essen wolle, gab ich zurück mit einem: Sag mir, was du am allerliebsten Essen wollen würdest, wenn du es dir aussuchen könntest, egal was. Dies ergab Burger. Es regnete mittlerweile stärker, Kira freute sich im Kinderwagen über die dicken Tropfen auf seiner Plastikregenabdeckung. Der gute Burgerladen, zu dem wir nach 15min Regenspaziergang kamen, hatte geschlossen. Was auch sonst. Unter der Markise, die Bänke draußen trocken, aber der Laden zu. Offen ab 17h. Es war 15h. Wir standen da, vor uns ergoss sich von der Markise ein Vorhang dichter Tropfen, Regenjacke an Regenjacke. „Ich bestell jetzt Essen“ sagte ich. „Wohin?“, „Hierher“. Die Idee Essen beim weniger guten, aber geöffneten Burgerladen zu bestellen und dieses zum guten, aber geschlossenen Burgerladen liefern zu lassen, es hier unter der Markise zu essen, war so einleuchtend, perfekt. Als die Bestellapp auf meinem Handy Lieferzeit ca. 30min anzeigte und die nasse Kälte uns langsam die feuchten, weil von den Regenjacken nur unzureichend geschützten Beine hochkroch, überlegten wir es uns doch anders und als ich auf ‚Bestellung abschicken‘ drückte, war meine übliche Adresse das Ziel der Lieferung. Dennoch, die guten Dinge müssen nicht perfekt sein. Nur gut.

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